Full text: Die Reichsverfassungsurkunde vom 16. April 1871.

258 Gesetz über die Erwerbung und den Verlust 
2. Abgesehen von den in § 9 des Gesetzes erwähnten Fällen be- 
steht keine Nöthigung für die Bundesangehörigen sich in den Verband 
eines anderen Bundesstaates aufnehmen zu lassen. Hienach kann es im 
Geltungsgebiete des norddeutschen Unterstützungswohnsitzgesetzes vom 6. 
Juni 1870 vorkommen, daß Jemand in der Gemeinde eines Bundes- 
staates, dem er nicht angehört, den Unterstützungswohnsitz erwirbt, und 
in Folge dessen aus diesem Staate in seinen eigenen Heimatstaat nicht 
mehr verwiesen werden kann. 
3. a. Der Ausdruck „Niederlassung“ bedeutet im Hinblick auf § 1 
Ziff. 1 des Freizügigkeitsgesetzes vom 1. Mai 1867 nichts anders, als 
den Besitz einer eigenen Wohnung oder eines Unterkommens in der be- 
treffenden Gemeinde in Verbindung mit der erklärten Absicht seinen dauern- 
den Aufenthalt daselbst zu nehmen (vergl. hiezu die slenogr. Ber. 1870 
S. 260); dagegen ist der Besitz eines eigenen Haushaltes oder Geschäf- 
tes zur Substanzirung des Ausdruckes „Niederlassung“ im Sinne des 
#§ 7 nicht erforderlich. Es können demgemäß auch Gewerbsgehilfen, 
Dienstboten rc., welche in der Gemeinde ein Unterkommen gefunden haben, 
die Aufnahme beanspruchen. 
b. Da die Thatsache der Niederlassung eine Voraussetzung der 
Aufnahme bildet, so können die Einzelregierungen, auch wenn sie wollen, 
auswärts wohnenden Angehörigen anderer Bundesstaaten die Aufnahme 
nicht ertheilen, was nach der bisherigen bayrischen Gesehgebung möglich 
war. 
4. Die Motive bemerken hiezu (S. 158): „Lebtere Bedingung 
war aus dem Grunde hinzuzusügen, weil es einen inneren Widerspruch 
enthalten würde, die blos thatsächliche Niederlassung von lästigeren Be- 
dingungen abhängig sein zu lassen, wie die förmliche Aufnahme in den 
Unterthanenverband. Die Voraussetzungen, unter welchen ein Bundes- 
angehöriger Anspruch auf die Naturalisation in einem anderen Bundes- 
staate hat, sind demnach — abgesehen von dem Nachweise der 
Bundesangehörigkeit und im Falle der Unselbstständigkeit 
des väterlichen 2c. Consenses (5 2 des Freizügigkeitsgesetzes) 
folgende: 
1) der Nachsuchende muß sich am Orte der Niederlassung eine 
eigene Wohnung oder ein Unterkommen zu verschaffen 
im Stande sein (§ 1 Pos. 1 des Freizügigkeitsges.); 
2) er darf keinen polizeilichen Aufenthaltsbeschränk- 
ungen unterliegen und nicht innerhalb der letzten 12 Monate 
wegen wiederholten Bettelns oder wegen wiederholter Land- 
streicherei bestraft worden sein (8 3 des Freizügigkeitsge- 
febes; 
3) er muß hinreichende Kräfte besitzen, um sich und seinen 
nicht arbeitsjähigen Angehörigen den nothdürftigen Lebens-
	        
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