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Hiergegen replizierte der „Hamb. Correspondent“: ²⁹)
„Rein staatsrechtlich läßt sich nicht bestreiten, daß die Staats=
sekretäre Untergebene des Reichskanzlers und an dessen politischen
Instruktionen gebunden sind. Andererseits aber wird sich auch
nicht bestreiten lassen, daß diese Staatssekretäre, wenn sie zu=
gleich preußische Minister sind, im Ministerrat und dem Mon=
archen gegenüber, selbständige Überzeugungen zu vertreten haben.
Die Sache ist etwas verwickelt und unklar, wie manches in
unserem Reichs= und Staatsrecht, das praktisch in den ersten
20 Jahren des Reiches durch die übermächtige Persönlichkeit des
Fürsten Bismarck bestimmt worden ist. Damals schon, wenn
auch nicht in dem Grade wie unter dem „neuen Kurse“, hat die
mehr oder minder große Bedeutung der Staatssekretäre weniger
vom geschriebenen Recht, als von ihrer Persönlichkeit abgehangen.
Es hat Staatssekretäre gegeben, die vor dem Gedanken zurück=
geschreckt wären, neben Bismarck eine selbständige Rolle zu spielen,
und selbst der stolze Herr v. Puttkamer hat sogar als preußischer
Minister und Vizepräsident sich im Reiche öffentlich nur als
einen Gehilfen des Fürsten Bismarck hingestellt und mit einer ge=
wissen Ängstlichkeit gegen den Verdacht protestiert, daß er sich für
einen selbständigen Staatsmam halte. Andererseits wird kein
Kenner der Vorgänge der letzten Jahrzehnte in Abrede stellen,
daß Männer wie die Herren v. Bötticher und Delbrück in langen
Perioden mindestens so selbständige Staatsmänner und Politiker
gewesen sind, wie irgend ein preußischer Minister mit Portefeuille.“
Durch das Stellvertretungsgesetz von 1879 wurde den Staats=
sekretären die politische Verantwortlichkeit für ihre Ressorts über=
tragen. Aber nicht Abstimmung in einem Kollegium stellt
nötigenfalls die erforderliche Willenseinheit innerhalb der Reichs=
regierung her, sondern jeder einzelne Staatssekretär hat sich mit
dem Kanzler zu verständigen, und vermag er dies nicht, so muß
er gehen — wozu er vom Kanzler auch unmittelbar veranlaßt
werden kann, da dieser nach dem Stellvertretungsgesetz in
²⁹) efr. „Hamb. Corresp.“ vom 23. Okt. 1895.