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Reichstagssitzung vom 28. April die sofortige Freilassung desselben,
indem sie behaupteten, daß die Teilnahme der Reichstagsmitglieder
an den Arbeiten der Gesetzgebung jedem anderen Interesse vor=
angehen müsse⁴⁸).
Der damalige Bundeskanzler Graf Bismarck äußerte sich
sich über diesen Antrag u. a. wie folgt:
„Ich bin gleichfalls überzeugt, daß die Interessen der Voll=
ständigkeit dieser Versammlung, daß die Interessen der Bundes=
gesetzgebung höher stehen und schwerer wiegen, als örtliche
Interessen der Verwaltung oder der Rechtspflege, wenigstens in
einer vorübergehenden Bedeutung der letzteren; ich hätte nur
lebhaft gewünscht, daß der Herr Abgeordnete Mende sich selbst
von diesem Grundsatz lebhafter durchdrungen hätte und daß er
die Interessen der Arbeiter lieber hier auf dem Boden der Gesetz=
gebung, als in Gladbach auf dem Boden der Agitation vertreten
hätte. Ich hätte lebhaft gewünscht, daß er es vorgezogen hätte,
sich dort an den schwierigen Fragen der Gewerbeordnung, die
sich gerade in diesen Tagen vorzugsweise mit den Arbeitern be=
schäftigte, zu beteiligen, als in Gladbach (wie er vorgegeben)
„tumultuierende Polizeibeamte zu beruhigen.“ Es ist ja kein
Zweifel, daß der Antrag verfassungsmäßig berechtigt, und daß
die Versammlung verfassungsmäßig berechtigt ist, darüber zu
entscheiden. Als Vertreter der Regierungen kann ich nur wünschen,
daß der Gerechtigkeit freier Lauf bleibe, und daß diese Ver=
sammlung — die erste in Norddeutschland — ihr Zeugnis dafür
einwerfe, daß der Sache der Arbeiter mit tumultuarischen Wühlereien
nicht gedient sei, sondern daß ihr am besten durch die Arbeit hier
inmitten dieser Versammlung gedient werde.
Als ein Zeugnis über diese Frage werde ich den Ausspruch
der hohen Versammlung anzusehen haben, keinenfalls als eine
Ansichtsäußerung darüber, bis zu welchem Maße Regierungen
die Gesetze energisch handhaben sollen. Die Regierungen werden
⁴⁸) efr. Dr. H. Robolsky: „Der deutsche Reichstag“. Berlin 1893, bei
Conrad Skopnik.