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es kann daher dem Vorschlage entgegengesetzt werden, daß auch
mit der Einführung einer dem Reichstag beizulegenden Straf=
gewalt das allgemeine Rechtsbewußtsein nach wie vor eine volle
Befriedigung vermissen wird.
Das Ungenügende und Anstößige des jetzigen Zustandes
liegt aber nicht sowohl darin, daß jedwede Ahndung nach den
Satzungen des gemeinen Strafrechts ausgeschlossen ist, als viel=
mehr darin, daß geradezu eine Straflosigkeit verbürgt ist und
auch die gröbsten Ausschreitungen im Hause ungeahndet bleiben
und ungeahndet durch die Presse außerhalb des Hauses ver=
breitet werden dürfen.
Eine Ausgleichung dieses das Rechtsbewußtsein verletzenden
Rechtszustandes will der Gesetzentwurf durch Einführung einer
mit kräftigen Rügemitteln ausgestatteten Disziplinarstrafgewalt
des Reichstages selbst herbeiführen. Dabei darf freilich nicht
verkannt werden, daß diese Ausgleichung, wo eine schwerere
Rechtsverletzung in Frage steht, noch keineswegs zureichend er=
scheint, die volle Sühne dieser vielmehr nur in dem Eintritte
der strafrechtlichen Ahndung durch den Richter gefunden werden
kann.“
Die Vorlage rief in der Presse eine lebhafte Bewegung
hervor. Auf liberaler Seite und namentlich in der Presse der
Fortschrittspartei war man bemüht, die Absicht und das Streben
des Reichskanzlers bei dem Entwurf als gegen die Würde der
Reichsvertretung und gegen die parlamentarische Redefreiheit
gerichtet darzustellen, und fand es verletzend für den Reichstag,
daß die Regierung nicht ihm selber die etwa erforderlichen Schritte
zur Verbesserung seiner inneren Disziplin überlasse. ⁵²)
Füglich nahm die Mehrheit folgenden Antrag der vereinigten
Linken an:
1. „daß die bestehenden Garantien der Redefreiheit, die
selbständige Ordnung des Geschäftsganges im Parlament
und der Disziplin seiner Mitglieder die unerläßlichen
⁵²) efr. „Provinzial=Correspondenz“ vom 15. Januar 1879.