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Im ersten Deutschen Reichstage, der im März 1871 eröffnet
wurde, waren für die erste Session Verhandlungen von größerer
politischer Bedeutung von vornherein nicht in Aussicht genommen.
Es handelte sich bei den ersten Beratungen des Deutschen Reichs=
tages nicht, wie bei Gründung des Norddeutschen Bundes,
darum, die Grundlagen eines neuen Staatswesens erst zu schaffen,
— der Deutsche Reichstag trat vielmehr auf den Boden einer
bestehenden allseitig anerkannten Verfassung. Die nächste Auf=
gabe desselben war der praktische Ausbau, und es lag daher zu=
nächst kein Anlaß vor zu großen Kämpfen über widerstreitende
politische Grundanschauungen und zu tieferen politischen Er=
regungen.
In diesem Sinne und Geist waren denn auch alle poli=
tischen Parteien an die Beratungen herangegangen, und die=
jenigen selbst, welche die gegebenen Grundlagen der Verfassung
von ihrem Parteistandpunkte nicht für genügend erachteten, be=
schieden sich dennoch, an dem gewonnenen Boden der Einheit zu=
nächst festzuhalten und die Erfüllung weiterer Wünsche der dem=
nächstigen Entwicklung vorzubehalten.
Die Beratungen der Session würden daher eine größere
politische Bedeutung überhaupt nicht gewonnen haben, wenn dies
nicht durch die Stellung derjenigen Abgeordneten veranlaßt
worden wäre, welche nicht eigentlich eine politische Partei, wohl
aber auf Grund gemeinsamer konfessioneller Anschauungen und
Bestrebungen eine gesonderte Vereinigung innerhalb des Reichs=
tages bildeten. Es war dies die katholische Partei, welche sich
selbst unter der Bezeichnung „Zentrum“ oder Mittelpartei neben
die eigentlich politischen Parteien gestellt hatte. Als nun der
Reichstag vor dem Eintritt in seine eigentlichen Aufgaben in Er=
widerung der Thronrede und in Übereinstimmung mit dem Sinn
und Geiste derselben eine Adresse an den Kaiser zu erlassen und
darin auszusprechen gedachte, „daß in dem Deutschen Reiche die
Tage der Einmischung in das innere Leben anderer Völker
unter keinem Vorwande und in keiner Form wiederkehren sollten,“
da glaubte die katholische Partei sich einer solchen Äußerung nicht