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ein charakteristisches Erzeugnis des praktischen Genies des Fürsten
Bismarck. Nur hat es bisher nicht diejenige Anwendung ge=
funden, deren es fähig ist. Nach dem Stellvertretungsgesetze
kann — und äußerlich ist es bekanntlich auch seit langer Zeit
geschehen — einem Generalvertreter des Reichskanzlers die
politische Verantwortlichkeit des letzteren für den gesamten Um=
fang seiner Geschäfte und Obliegenheiten übertragen werden;
ferner kann diese Verantwortlichkeit für diejenigen Amtszweige,
welche sich in der eigenen und unmittelbaren Verwaltung des
Reiches befinden, den Ressortchefs übertragen werden. Es ist dies
somit zulässig für die Vorstände des Reichsamts des Innern,
des Auswärtigen Amtes, der Admiralität, der Reichseisenbahn=
Verwaltung, des Reichsschatz=, Justiz= und Postamtes. Von
einem verantwortlichen Reichsministerium im herkömmlichen
Sinne des Wortes unterscheidet diese Einrichtung — da nie=
mand die Mitglieder an kollegialischer Beratung hindern kann,
wenn sie solche abhalten wollen — sich hauptsächlich dadurch,
daß die Stellvertretung jedem einzelnen Ressortchef übertragen
sein muß, was nur auf den Antrag des Reichskanzlers geschieht,
und daß dieser „jede Amtshandlung auch während der Dauer
einer Stellvertretung selbst vorzunehmen“ befugt ist. Laband
faßt sein Urteil über diese Einrichtung dahin zusammen: „Es
ist dies eine Organisation, welche in einigen Zügen in der
Gestaltung des englischen Kabinetts ihr Vorbild hat.“ —
Wir können dieses Kapitel nicht besser abschließen, als mit
Wiedergabe eines Briefwechsels vom September 1880 zwischen
dem Fürsten Bismarck und dem damaligen Vizekanzler Grafen
Otto zu Stolberg²¹). Der Briefwechsel ehrt beide Verfasser in
gleich ausgezeichneter Weise.
Graf Stolberg schreibt:
Wernigerode, 5. September 1880. Ew. Durchlaucht wollen
mir gütigst nachstehende Darlegung gestatten. Ew. Durchlaucht
werden sich erinnern, daß der Entschluß, wieder in den unmittel=
²¹) efr. Bismarck=Jahrbuch, herausgegeben von Horst Kohl IV. 3.