Die Aufsicht über die Religionsgesellschaften. (8. 124.) 175
der freien Religionsübung aufgenommen und die Bildung neuer Religionsgesellschaften
nach den gleichen Grundsätzen wie die Bildung anderer Vereine zu erlaubten Zwecken
völlig freigegeben. Sie hatte außerdem den Grundsatz der Selbständigkeit aller
Religionsgesellschaften ausdrücklich ausgesprochen, indem sie in Art. 15 bestimmte: „Die
evangelische und die römisch-katholische Kirche, sowie jede andere Religionsgesellschaft
ordnet und verwaltet ihre Angelegenheiten selbständig und bleibt im Besitz und Genuß
der für ihre Kultus-, Unterrichts= und Wohltätigkeitszwecke bestimmten Anstalten, Stif-
tungen und Fonds.“ 1 Dadurch war anerkannt, daß die frühere Ansicht von der Not-
wendigkeit einer starken Beaufsichtigung der Kirche verlassen werden solle und daß das
Oberaufsichtsrecht des Staates auf repressive Maßregeln zu beschränken sei.? Somit
folgte aus dieser Verfassungsvorschrift allerdings, daß der Staat die direkte anordnende
Fürsorge für die Interessen der Kirche dieser selbst und ihren Organen zu überlassen
habe und die Kirche nicht durch ein System politischer Maßregeln beengen dürfe; keines-
wegs aber folgte aus der den Religionsgesellschaften gewährleisteten selbständigen Ordnung
und Verwaltung ihrer Angelegenheiten ein gänzliches Aufgeben des staatlichen Aufsichts-
rechtes, sondern es blieb dieses Recht fortbestehen als Bestandteil der Kirchenhoheit des
Staates, als seine Befugnis, da, wo eine Religionsgesellschaft verletzend in das Gebiet
des Staates oder anderer Religionsgesellschaften übergriff oder wo solche Verletzungen zu
besorgen standen, beseitigend oder hindernd einzuschreiten. Als sich indes bei der Be-
ratung der von der Staatsregierung im Jahre 1873 vorgelegten Kirchengesetzentwürfe
(der sog. Maigesetze) Bedenken über deren Verfassungsmäßigkeit erhoben und von ver-
schiedenen Seiten behauptet wurde, daß der Staatsgewalt nach Art. 15 der Verfassungs-
urkunde weder die Gesetzgebung noch eine Aufsicht über die anerkannten Kirchen noch ein
jus circa sacra im älteren Sinne mehr zustehe, erging zur Beseitigung der entstandenen
Bedenken das Gesetz v. 5. April 1873 betreffend die Abänderung der Art. 15 und 18
der Verfassungsurkunde.? Durch dieses Gesetz wurde unter Aufhebung der Art. 15 und
1 Die Regierungsvorlage (§. 12) lautete: „Die
evangel. und die röm.-kathol. Kirche, sowie jede
andere Religionsgesellschaft bleibt im Besitz und
Genuß ihrer für Kultus-, Unterrichts= und Wohl-
tätigkeitszwecke bestimmten Anstalten, Stiftungen
und Fonds.“ Die Verfassungskomm. der Natio-
nalversamml. (Art. 19, Abs. 1 ihres Entw.) be-
antragte diese Bestimmung dahin zu fassen: „Jede
Religionsgesellschaft ist in betreff ihrer inneren
Angelegenheiten und der Verwaltung ihres Ver-
mögens der Staatsgewalt gegenüber frei und
selbständig““" Dazu bemerkten die Motive, daß
hierdurch die Unabhängigkeit der Religionsgesell-
schaften vom Staate anerkannt sei, sowohl in
ihren inneren religiösen Angelegenheiten als in
der Verwaltung des Vermögens, welcher Grund-
satz der in der Theorie allein richtige und der
Assoziationsfreiheit ents sprechende, in der Praxis
aber am besten geeignet sei, den nachteiligen
Konflikten des Staates mit den Religionsgesell-
schaften zu begegnen (Rauers Verhandl. der Ver-
fassungskomm. der Nationalversamml., S. 101,
107 ff., 223). Die oktroyierte Verf. Urk. vom
5. Dez. 1848 (Art. 12) gab indes dem Art. seine
im Texte mitgeteilte Fassung. Die amtlichen
Erläuterungen des Ministers v. Ladenberg (Er-
laß, die Bestimmungen der Verf. Urk. v. 5. Dez.
1848 über Religion, Religionsgesellschaften und
Unterrichtswesen betr., Berlin 1848) bemerken
hierzu (S. 8): „Die Bestimmung des Art. 19
des Entw. der Verfassungskomm. ist eine unge-
eignete, weil die Grenze zwischen den äußeren
und inneren Angelegenheiten nirgends fest be-
stimmt ist, und weil es ein negatives Recht
gibt, auf welches der Staat gegenüber den Re-
ligionsgesellschaften niemals verzichten kann, wenn
er sich nicht selbst gefährden will. Deshalb hat
die Verf. Urk. den praktischen Gesichtspunkt fest-
gehalten und den Religionsgesellschaften das Recht,
ihre Angelegenheiten selbständig zu ordnen und
zu verwalten, verheißen, wonach künftig eine
positive Teilnahme von seiten der Staats-
gewalt nicht mehr stattfinden wird.“ Die Re-
vision der Verf. Urk. ließ es, obschon es an
mannigfachen Abänderungsvorschlägen nicht fehlte,
dennoch bei der Fassung des Art. (jetzt 15) be-
wenden. Hinschius, Die preuß. Kirchengesetze
des Jahres 1873 (1873), S. XXVIIIff.; v. Rönne,
Verf. Urk., S. 37—41; Anschütz, Verf. Urk.,
Bd. J, S. 282—286.
2: Vgl. die in der vor. Anm. angeführten Er-
läuterungen des Ministers v. Ladenberg.
*Hinschius, Preuß. Kirchenrecht, S. 184°;
dort weitere zitate; vgl. auch Anschütz, Verf.
Urk., Bd. I, S. 300.
4 In Wirklichkeit handelte es sich nur um eine
Deklaration. Hinschius, Kirchgesetze 1873,
S. XXXV f.; Richter-Dove-Kahl, Kirchen-
recht, S. 227; Kahl, Lehrsystem, S. 196 f.;
Anschütz, a. a. O., S. 290, 292—294.
5 G. S. 1873, S. 143. Über dieses aus der
Initiative des A. 5. hervorgegangene Gesetz vgl.
Bericht der Komm. des A. H., Stenogr. Ber.
1872—73, Anl. Bd. I, Nr. 128, S. 602 ff.; Ver-
handl. darüber: Stenogr. Ber. des A. H. 1872
—/73, Bd. II, S. 841—924, 1255—1275, 1315
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