Full text: Das Staatsrecht der Preußischen Monarchie. Dritter Band. Erste Abteilung. (3_1)

10 Die Gesetzgebung. (§. 110.) 
ebenso zu behandeln ist wie ein neues Gesetz, und daß es daher auch dazu der Überein- 
stimmung beider Kammern und des Königs bedarf. 1 
d) Da nach Art. 62 der Verfassungsurkunde die gesetzgebende Gewalt dem Könige 
und den beiden Kammern nur gemeinschaftlich zusteht, so ergibt sich, daß eine 
Kammer nicht auf ihr Recht der Zustimmung völlig verzichten, also nicht dem König die 
einseitige Festsetzung des Gesetzes überlassen darf. Auf Grund der Verfassung sind die 
Mitglieder des Landtages Vertreter des ganzen Volkes und an Aufträge und Instruk- 
tionen der einzelnen Wahlkörper oder der Wähler nicht gebunden (Verf. Urk., Art. 83); sie 
sind verbunden, die verfassungsmäßigen Rechte nach den Vorschriften der Verfassung, 
und zwar nur nach diesen, auszuüben. Die Verfassungsurkunde kennt aber, abgesehen 
von den in Art. 63 vorgesehenen Notverordnungen, nur eine einzige Gattung der Ge- 
setze, nämlich die in Art. 62 gedachten, d. h. die zwischen der Krone und den beiden 
Kammern vereinbarten, und gibt den Kammern nicht das Recht, auf die Ausübung. 
ihres Mitwirkungsrechtes bei der Gesetzgebung zu verzichten und den Erlaß von 
Gesetzen dem Könige allein zu überlassen.? Die Ausübung des Rechtes aus dem 
Art. 62 findet eben nur „gemeinschaftlich“ statt, und diese verfassungsmäßig gemein- 
schaftliche Ausübung ist nicht bloß ein Recht, sondern zugleich eine diesem Rechte ent- 
sprechende Pflicht. Aber es ist mit dem Grundsatze des Art. 62 nicht unvereinbar, in 
ein Gesetz die Bestimmung aufzunehmen, daß der König ermächtigt sein solle, im Wege 
königlicher Verordnung, ohne weitere Zuziehung der Kammern, Vorschriften über Gegen- 
stände zu erlassen, welche der Gesetzgebung vorbehalten sind. Darin liegt ein durch- 
aus möglicher und zulässiger Verzicht des Landtages für einen einzelnen Fall, kraft: 
dessen aus bestimmten Ursachen dem Könige das Recht der Regelung für einzelne Gegen- 
stände zur alleinigen Ausübung überlassen wird. Denn es handelt sich hier, nicht um einen 
Verzicht der Kammern auf ihr Recht an der Gesetzgebung, sondern um einen durch Ge- 
setz erklärten Verzicht der Kammern auf die ihnen an sich zukommende Mitwirkung bei 
Regelung eines bestimmten Gegenstandes des Staatslebens. 
2. Das Recht, ein Gesetz in Vorschlag zu bringen (das Recht der Initiative) ", 
  
1 Vgl. oben S. 3, Note 1. 
2 Sowenig der König berechtigt sein würde, 
sein Recht aus dem Art. 62 der Verf. Urk. den 
Kammern allein zu überlassen, sowenig sind 
auch die letzteren verfassungsmäßig befugt, sich 
ihrer Mitwirkung bei Erlaß eines Gesetzes zu- 
gunsten des Königs zu begeben. 
* Vgl. v. Gerber (Grundzüge des D. St. R., 
3. Aufl., S. 150), der sich dahin ausspricht, „daß 
eine Kammer nicht dem Monarchen die einseitige 
Festsetzung des Gesetzes übertragen könne", jedoch 
hinzufügt, „daß sie dies wohl in provisorischer 
Weise mit Vorbehalt nachträglicher Genehmigung 
tun könne"“. Die dem Text entgegengesetzte Ansicht 
vertrat mit Entschiedenheit v. Rönne (4. Aufl., 
Bd. L, S. 356, Note 3) und folgerte hieraus: 
„Aus diesem Standpunkte können das Ges. vom 
7. Mai 1853, betr. die Bildung der Ersten Kam- 
mer (G. S. 1853, S. 181), welches die Art. 65, 
66, 67 u. 68 der Verf. Urk. vom 31. Jan. 1850 
aufgehoben und bestimmt hat, daß die Erste Kam- 
mer durch königliche Anordnung zu bilden 
sei, und das Ges. vom 10. Juni 1854, betr. die 
Deklaration der Verf. Urk. vom 31. Jan. 1850, 
in bezug auf die Rechte der mittelbar gewordenen 
deutschen Reichsfürsten und Grafen (G. S. 1854, 
S. 363), welches die Wiederherstellung der ge- 
dachten Rechte durch königliche Verordnung 
gestattet, als mit dem konstitutionellen Rechte im 
Einklang stehende Gesetze nicht erachtet werden.“ 
Bezüglich des letzteren Gesetzes hat das Ges. v. 
  
15. März 1869 (G. S. 1869, S. 490) aller- 
dings bestimmt, „daß die Wiederherstellung der. 
durch die Gesetzgebung seit dem Jahre 1848 ver- 
letzten Rechte und Vorzsige mittelbar gewordener 
deutscher Reichsfürsten und Grafen fortan nur. 
im Wege besonderer Gesetze erfolgen könne“.“ 
Vgl. die Verhandl. in der 43. Sitzung der 1. K. 
v. 12. März 1852, wo die v. Rönnesche An- 
sicht von diesem selbst und dem Abgeordneten 
Kisker ausführlicher dargelegt wurde (Stenogr. 
Ber. der 1. K., 1851—52, Bd. II, S. 764 ff.). 
Gegen v. Rönne vgl. Laband, BdV. II, §. 58, 
und G. Meyer (Lehrb. des D. St. R., S. 573, 
Note 7). „Daß die staatsrechtliche Praxis“ 
so fährt v. Rönne fort, „in Preußen meiner. 
Ansicht entgegensteht, habe ich selbst bereits in 
den früheren Auflagen dieses Werkes hervorge-- 
hoben, indes vermag ich mich auch jetzt nicht 
davon zu überzeugen, daß es nach preußischem 
Staatsrechte zulässig sei, Gesetze zu erlassen, durch 
welche der König ermächtigt wird, Bestim- 
mungen der Verf. Urk. durch königliche 
Verordnung abzuändern“. Diese Erörterung. 
v. Rönnes trifft insofern nicht zu, als die Ab- 
änderung der Verfassung in den von v. Rönne- 
angeführten Fällen durch Gesetz erfolgte und. 
erst dieses verfassungsändernde Gesetz dem König 
die Vollmacht erteilte, das Weitere im Wege der 
Verordnung zu regeln. Dies war verfassungs- 
mäßig möglich, weil nirgends verboten. 
4 Von dem Rechte der Initiative im eigent- 
lichen Sinne verschieden ist das Recht der Kam-
	        
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