12 Die Gesetzgebung. (8. 110.)
der Antrag eines einzelnen Mitgliedes auf Erlaß eines Gesetzes niemals ein „Gesetz-
entwurf“ in Sinne der Verfassung.2
Das im Art. 64 festgestellte Recht der Initiative bezieht sich, da das Gegenteil in
der Verfassungsurkunde nicht verordnet ist, sowohl auf gewöhnliche Gesetze als auf Ver-
fassungsänderungen (sog. Verfassungsgesetze)
Ganz von selbst folgt übrigens aus dem Rechte der Initiative, da die Verfassung
hierin keine Beschränkung vorschreibt, daß derjenige, welcher einen Gesetzesvorschlag
eingebracht hat, jederzeit das Recht hat, ihn wieder zurückzuziehen. Also ist die
Staatsregierung hinsichtlich der von ihr vorgelegten Gesetzentwürfe hierzu in jedem Sta-
dium der Beratung, mithin selbst dann berechtigt, wenn etwa der Entwurf bereits
die Genehmigung der einen oder der anderen Kammer erhalten haben sollte.) — Ebenso
kann nicht zweifelhaft sein, daß ein von einem Mitgliede des einen oder anderen Hauses
in Antrag gebrachter Gesetzesvorschlag von diesem Mitgliede, soweit die Geschäftsordnung?
dies gestattet, zurückgezogen werden kann. Wäre dagegen ein solcher Vorschlag bereits
(unverändert oder amendiert) zum Beschluß des betreffenden Hauses erhoben worden, so
würde darauf die Zurückziehung seitens des Antragstellers ohne Einfluß bleiben, da mit
dem Beschlusse der Antrag dem Hause angeeignet ist.
3. Obgleich nach Art. 64, Abs. 1 der Verfassungsurkunde jeder der beiden Kam-
mern das Recht zusteht, Gesetze vorzuschlagen, ergab sich doch aus Art. 62, Abs. 3 der
Verfassungsurkunde die Frage, ob dieses Recht für das Herrenhaus ein unbeschränktes
1 Anderer Ansicht ist H. Schulze, Pr. St. R.,selbe Mitglied oder jedes andere Mitglied berech-
§. 171. Ebenso die Abgeordneten Strohn,
Wentzel und Reichensperger in der Sitzung
des A. H. v. 14. April 1856 (Stenogr. Ber. des
A. H. 1855—56, Bd. III, S. 1048— 50). Da-
gegen die Abgeordneten Graf Schwerin und
Duncker in der Sitzung des A. H. v. 27. Jan.
1870 (Stenogr. Ber. des A. H. 1869—70, Bd. III,
S. 1718 u. 1719). Erstere Ansicht vertrat auch
v. Rönne (4. Aufl., Bd. I, S. 358), der über
die Frage bemerkte: „In den beiden Sätzen des
Art. 64 sind zwei nur in einem inneren Ver-
wandtschaftsverhältnisse stehende, aber an sich ab-
gesonderte Gedanken niedergelegt. Der erste Satz
spricht den Grundsatz aus, wer die Initiative zu
Gesetzen hat; der Gedanke des zweiten Satzes ist,
daß es verhütet werden soll, denselben Gegen-
stand wiederholt in einer und derselben Sitzungs-
periode zur Beratung gelangen zu lassen, eines-
teils, um der ungebührlichen Verschwendung von
Zeit und Arbeitskräften vorzubeugen, und anderen-
teils um den politischen Leidenschaften nicht Tor
und Tür zu öffnen, sondern der Aufregung eine
gewisse Ruhe folgen zu lassen, und durch Ver-
tagung des Gegenstandes einen auf Ermüdung
der Kammern berechneten indirekten Zwang aus-
zuschließen. Diese ratio trifft aber ebensogut zu,
wenn der Gesetzesvorschlag von einem einzelnen
Mitgliede eines Hauses, als wenn er von dem
Könige oder von dem anderen Hause ausgeht.
Die entgegengesetzte Auslegung des Art. 64 würde
auch zu einem offenbaren Widerspruche führen.
Wenn nämlich in dem einen Hause ein Gesetzes-
vorschlag verworfen worden ist, der von dem
Könige ausgeht, oder den das andere Haus vor-
gelegt hat, so würde dieser Gesetzesvorschlag nicht
noch einmal in derselben Sitzungsperiode einge-
bracht werden dürfen. Wenn dagegen der Ge-
setzesvorschlag von einem einzelnen Mitgliede aus-
gegangen und demnächst von dem betreffenden.
Hause verworfen worden ist, dann würde das-
tigt sein, den Antrag in derselben Sitzungs-
periode nach Belieben zu erneuern. Eine solche
Intention kann indes der Verf. Urk. unmöglich
unterstellt werden.“ Gegen v. Rönne auch Born-
hak ?, I. S. 524 f. «
2H.Schulze,Lehrb.desPr.St.R.,§.171,
S. 218.
3 In der Sitzung des A. H. v. 26. Febr. 1872
hatte das A. H. einen von der Staatsregierung
eingebrachten Gesetzentwurf (betr. die Aufhebung
der Mahl= und Schlachtsteuer und einen Erlaß
an Klassensteuer) angenommen, worauf der Ent-
wurf von dem Staatsministerium unter Vor-
legung einer Allerh. Ermächtigung zurückgezogen
wurde, weil der Entwurf nur unter Abände-
rungen angenommen worden war, welche die
Staatsregierung nicht für annehmbar erachtete.
Die Berechtigung der Staatsregierung zu dieser
Zurückziehung eines bereits vom A. H. ange-
nommenen Gesetzentwurfes wurde hierauf in
Zweifel gezogen und die Ansicht aufgestellt, daß
zwar der Staatsregierung die Zurückziehung zu-
stehe, solange ein von ihr dem A. H. vorgelegter
Gesetzentwurf sich noch in der Beratung be-
fände, nicht aber dann, wenn er vom A. H. schon
angenommen sei, in welchem Falle vielmehr,
zufolge des §. 73 der Gesch. O., der Gesetzentwurf
dem H. H. zu überweisen sei, worauf dann in
diesem der Staatsregierung jederzeit das Recht
der Zurückziehung zustehe. Dieser Ansicht ist
indes das A. H. nicht beigetreten, sondern hat
angenommen, daß die Staatsregierung auch in
dem Stadium, wenn der Gesetzentwurf bereits
vom A. H. angenommen ist, zu dessen Zurück-
ziehung berechtigt sei, und daß derselbe hier-
durch erledigt sei, so daß eine Uberweisung an
das H. H. nicht stattzufinden habe (Stenogr. Ber.
des A. H. 1871—72, Bd. II, S. 959—9627).
4 Vgl. §. 27 der Gesch. O. des H. H. und §. 24,
der Gesch. O. des A. H.