Notverordnungen. (§. 112.) 21
gemeinen Grundsatze über die vollziehende Gewalt, kraft dessen dem Könige ein selbstän-
diges Verordnungsrecht zusteht, das neben dem Rechte der Gesetzgebung und dem an
diese sich anschließenden und in Art. 45 besonders erwähnten Rechte der Vollzugs-
verordnungen zu Gesetzen vorhanden ist. 1 Art. 45 billigt den Verordnungen keineswegs
nur die Ausführung der Gesetze, also denjenigen Raum zu, welchen die Gesetze, d. h.
einerseits die nach Erlaß der Verfassungsurkunde mit Zustimmung der Kammern er-
lassenen Gesetze, andererseits die vor der Verfassungsurkunde erlassenen allgemeinen Rechts-
normen freilassen. Wenn die Verfassungsurkunde nicht ausdrücklich sagt, daß der König
nur Ausführungsverordnungen erlassen dürfe, so muß hieraus für den König ein
Recht auf Erlaß sonstiger Verordnungen hergeleitet werden. Das bloße Schweigen
der Verfassungsurkunde spricht nicht gegen die Zulässigkeit sonstiger Verordnungen
als der in Art. 45 gedachten. Die ausdrückliche Erwähnung der Ausführungs-
verordnungen ergibt nur, daß andere Verordnungen dadurch nicht ausgeschlossen sein
sollten. Die gesetzgebende sowohl als die vollziehende Gewalt erstrecken sich über das
ganze Gebiet der Staatsgewalt; sie sind eben dieselbe Staatsgewalt in zwei verschieden-
artigen Funktionen. Wenn also die Staatsgewalt in jeder dieser beiden Funktionen
Normen zu erlassen hat, so unterscheiden sich diese nicht nach dem Gegenstande, auf
den sie sich beziehen, sondern nach der verschiedenen Art, wie sie sich auf den Gegen-
stand beziehen.
C)Von der Regel, daß der König nicht in den Bereich der Gesetzgebung ein-
zugreifen ermächtigt ist, besteht indes gemäß Art. 63 der Verfassungsurkunde die Aus-
nahme, daß er in dem Falle, wenn die Aufrechthaltung der öffentlichen Sicherheit oder
die Beseitigung eines ungewöhnlichen Notstandes es dringend erfordert, unter den Vor-
aussetzungen und Bedingungen des gedachten Artikels Verordnungen mit Gesetzeskraft
(sog. Notverordnungen) zu erlassen befugt ist. Außerdem besteht von jener Regel
auch die Ausnahme, daß durch allgemeine gesetzliche Anordnung gewissen Organen
der Staatsverwaltung das Recht zum Erlaß von Verordnungen übertragen worden
ist (s. darüber unten SS. 112, 113).
S. 112.
Notverordnungen.?
I. Während es nach Art. 62 der Verfassungsurkunde die Regel bildet, daß der
König die gesetzgebende Gewalt nicht einseitig auszuüben berechtigt ist, sondern zu jedem
Gesetze die Übereinstimmung des Königs und beider Kammern erforderlich ist, setzt
1 Das ist auch Grundsatz des englischen Rechtes,
. Gneist, Verwaltung, Justiz, S. 74; vgl.
G. Meyer-Anschütz, der scharf widerspricht;
über den ganzen Stand der Streitfrage daselbst,
S. 563, N. 7. Gegen v. Rönne pvgl. besonders
Gneist a. a. O., der die Verordnung als ver-
bindlichen Staatswillen praeter legem in allen
Gebieten zuläßt, welche rechtlicher Normierung
bedürfen, in denen es aber an einem Gesetzesakte
fehlt. Dieser Ansicht hat sich L. v. Stein, Die
Verwaltungslehre, Teil 1I, Abt. 1, S. 70ff., 209 ff.,
und Handbuch der Verwaltungslehre, S. 30f ff.,
im wesentlichen angeschlossen. Dagegen G. Meyer-
Anschütz, der behauptet, daß diese Ansicht auf
einer unrichtigen übertragung englischer Verhält-
nisse beruhe, indem in England das Gesetzgebungs-
recht des Parlaments sich neben dem königl.
Verordnungsrechte allmählich entwickelt habe und
auch jetzt noch prinzipiell die königl. Verordnungs-
gewalt überall da anwendbar sei, wo nicht eine
ibestimmte Parlamentsakte entgegenstehe. Dagegen
sei in Deutschland das Mitwirkungsrecht der
Landtage durch ausdrückliche Verfassungsbestim-
mungen eingeführt, welche mit einem Schlage
das frühere unbeschränkte Gesetzgebungsrecht des
Landesherrn beseitigt hätten. Letzteres wird nicht
bezweifelt: das „Gesetzgebungsrecht“ der Landes-
herren ist heute zweifellos ein „beschränktes".
Abergeradedasin Englandtrotz des jahr-
hundertealten und weit vorgeschrittenen
Parlamentarismus festgehaltene selb-
ständige Verordnungsrecht der Krone
wird als starker Beweisgrund betrachtet
werden müssen, daß selbst im parlamen-
tarischen, demnach um so mehr im kon-
stitutionellen Staate, ein selbständiges
Verordnungsrecht der Regierung außer-
halb des Bereiches der Gesetzgebung als
staatsrechtliche Notwendigkeit anerkannt
werden muß.
2 Vgl. Zöpfl, Grunds. des allgem. u. D. St. R.,
4. Aufl., Bd. II, S. 604 f.—611 ff.; v. Held,