22 Die Gesetzgebung. (§. 112.)
Art. 63 eine Ausnahme von dieser Regel fest, indem er unter gewissen Voraussetzungen
und Bedingungen dem Könige gestattet, ohne vorgängige Genehmigung der Kammern
Verordnungen mit Gesetzeskraft (sog. Notverordnungen) zu erlassen.
Weder der Entwurf einer Verfassung, welchen die Staatsregierung am 20. Juni
1848 der Nationalversammlung vorlegte, noch der Verfassungsentwurf der Kommission.
der letzteren enthielten Bestimmungen über Verordnungen mit provisorischer Gesetzes-
kraft. Erst die oktroyierte Verfassungsurkunde vom 5. Dezember 1848 hatte in dem
Abschnitte: „Allgemeine Bestimmungen“ als Art. 105, Abs. 2 folgenden Satz auf-
genommen: „Wenn die Kammern nicht versammelt sind, können in dringenden Fällen,
unter Verantwortlichkeit des gesamten Staatsministeriums, Verordnungen mit Gesetzes-
kraft erlassen werden; dieselben sind aber den Kammern bei ihrem nächsten Zusammen-
tritt zur Genehmigung vorzulegen.“ Die Revisionskammern nahmen hieran zunächst
die Anderung vor, daß sie den ganzen Satz aus den „Allgemeinen Bestimmungen“ an
die systematisch richtige Stelle, nämlich in den Titel V: „Von den Kammern“, un-
mittelbar hinter den Art. 62, der die Regel des Zustimmungsrechtes der Kammern zu
allen Gesetzen ausspricht, versetzten, ferner, daß sie dem Satze seine gegenwärtige Fassung
dahin gaben: „Nur in dem Falle, wenn die Aufrechthaltung der öffentlichen Sicherheit
oder die Beseitigung eines ungewöhnlichen Notstandes es dringend erfordert, können,
insofern die Kammern nicht versammelt sind, unter Verantwortlichkeit des gesamten
Staatsministeriums Verordnungen, die der Verfassung nicht zuwiderlaufen, mit Gesetzes-
kraft erlassen werden.
tritt vorzulegen.“ 2
Dieselben sind aber den Kammern bei ihrem nächsten Zusammen-
II. Die Fälle, in welchen der Erlaß von Notverordnungen zulässig ist, beschränken.
sich auf zwei, nämlich wenn a) die Aufrechthaltung der öffentlichen Sicherheit oder
b) die Beseitigung eines ungewöhnlichen Notstandes es dringend erfordert.
Dem Gegenstande nach dürfen nur solche vorgenommen werden, welche der Ver-
fassung nicht zuwiderlaufen.
Die weiteren rechtlichen Schranken der Notverordnungsbefugnis bestehen darin:
a) daß dieselbe der Zeit nach nur alsdann stattfindet, wenn die Kammern nicht
versammelt sind; b) daß diese Verordnungen nur unter Verantwortlichkeit des gesamten.
Staatsministeriums erlassen werden dürfen;
I) daß sie nicht sofort die Kraft eigent-
System des Verf. R., Bd. II, S. 86 ff.; v. Mohl,
Staatsrecht, Völkerrecht u. Politik, Bd. II, S. 624fff.;
Zachariä, D. St. u. B. R., 3. Ausg., Bd. II,
S. 171 f.; Grotefend, D. St. R., S. 637;
v. Kaltenborn, Einl. in das Preuß. St. R.,
S. 594, G. Meyer-Anschütz, Lehrb. d. D. St.
R., S. 577 ff.; v. Gerber, Grundzüge 3,S. 152ff.;
v. Schulze, Pr. St. R., Bd. II, S. 231 ff.;
E. A. Chr., Die Verordnung mit Gesetzeskraft in
Aegidis Zeitschr. f. D. St. R., Bd. I, S. 221 ff.;
Hatschek in Grünhuts Zeitschr. 1900, S. 1 ff.;
Glatzer, Recht der provisor. Gesetzgebung (1899);
Schwartz, Verf. Urk., S. 206 ff.; Arndt, Verf.
Urk., S. 263 ff. Bornhak 's, 1, S. 538 ff.; Menzel
in Festgabe für Laband, I, 1908, 367 ff. Weitere
Literatur bei Meyer-Anschütz §. 161, S. 577.
1 Dernburg, Preuß. Privatr., Bd. I. S. 30,
N. 7, tadelt den Ausdruck: „provisorisches Gesetz“
ohne zutreffenden Grund, da ein Mißverstehen
der Bedeutung des Ausdrucks nicht entstehen kann,
wie er denn auch in gleichem Sinne von anderen
Schriftstellern gebraucht wird. Vgl. v. Gerber,
Grundsätze 3, S. 153; v. Schulze, Pr. St. R.,
Bd. II. S. 35; G. Meyer-Anschütz, §. 161.
2 Näheres über die Entstehung des Art. 63
und über die Motive seiner gegenwärtigen Fassung
vgl. in v. Rönnes Bearbeitung der Verf. Urk.,
S. 121—125. Bei der Revision der oktr. Verf. Urk.
wurde auch die gänzliche Streichung dieses Artikels
beantragt, „weil man unmöglich der Regierung.
in der Verfassung selbst das Recht einräumen.
könne, Verfassungsverletzungen vorzunehmen, und
weil es, wenn in Fällen der Notwendigkeit Ver-
ordnungen oktroyiert werden müßten, zweckmäßiger
sei, dies ohne ausdrückliche Gestattung der Ver-
fassung zu tun und demnächst eine sog. Indem-
nitätsbill zu verlangen“; ferner auch, „weil sich
für die ausdrückliche Gestattung des Oktroyierungs-
rechtes keine zutreffende Grenze ziehen und daher
eine jeden Zweifel ausschließende Fassung nicht.
normieren lasse“ (s. insbes. den Ber. des Zentral-
aussch, der 1. K. in den Stenogr. Ber. der 1. K.
1849—50, S. 1311 ff.). —Gegen d.Oktroyierungs-
recht vgl. v. Rotteck, Art. „Charte“ in v. Rotteck.
u. Welcker, Staatslexikon 2, Bd. III, S. 188,
3. Aufl., Bd. III, S. 491; Leue in den Stenogr.
Ber. der 1. K. 1849—50, Bd. 1, S. 193, für
dies Recht unter bestimmten Grenzen und Ein-
schränkungen besonders Simson in den Stenogr.
Ber. der 2. K. 1849—50, Bd. II, S. 594 f. —
Für die Statthaftigkeit der Oktroyierung von einst-
weiligen Gesetzen: v. Mohl, a. a. O., v. Kalten-
born, Einl. in das konstitut. Verf. R., S. 98,
und Held, Bd. II, S. 68, N. 2. *