Prüfung der Rechtsgültigkeit der Gesetze und Verordnungen. (§. 116.) 55
gegengezeichnete, wenngleich publizierte Erlasse findet daher auch dasjenige gar keine
Anwendung, was der Art. 106 vorschreibt, sondern sie stehen gänzlich außerhalb der Ver-
fassung und sind überhaupt gar nicht verbindlich. Deshalb sind die Behörden und ins-
besondere die Gerichte berechtigt wie verpflichtet, sich auch der Prüfung zu unterziehen,
ob eine verkündete Verordnung den vorstehend gedachten Voraussetzungen entspricht, ohne
deren Vorhandensein von einer Verordnung, auf welche die Bestimmung des Art. 106,
Abs. 1 der Verfassungsurkunde zur Anwendung gebracht werden könnte, überall nicht
die Rede sein kann. Auf Gesetze dagegen finden diese Sätze keine Anwendung. Eine
Gegenzeichnung von Gesetzen erfolgt tatsächlich, hat aber keinerlei rechtliche Bedeutung.
Denn die Gegenzeichnung bedeutet staatsrechtlich die Üübernahme der Verantwortlichkeit
gegenüber dem Parlament. Eine solche ist konstitutionelles Prinzip bei Verordnungen
als Korrelat der Unverantwortlichkeit des Monarchen. Auf Gesetze aber ist dieser Ge-
danke ganz unanwendbar, denn für Gesetze trägt die Verantwortung kein Minister, son-
dern das Parlament selbst. Ferner sind die Behörden nicht berechtigt, sich einer Prüfung
der sonstigen Rechtsgültigkeit in gesetzlicher Form publizierter Gesetze oder königlicher
Verordnungen zu unterziehen; vielmehr steht ein solches materielles Prüfungsrecht nur
den Kammern zu. In betreff der auf Grund des Art. 63 erlassenen Notverord-
nungen dürfen somit die Behörden sich nicht damit befassen, zu untersuchen und
darüber zu entscheiden, ob die Verordnung eine dringliche war und unter eine der beiden
allein statthaften Kategorien fällt, ebensowenig, ob ihr Inhalt der Verfassung zuwider-
läuft, ob sie innerhalb der allein dafür zugelassenen Zeit, wo die Kammern nicht ver-
sammelt waren, erlassen worden ist. Bezüglich der königlichen Verordnungen des
Art. 45 sind die Behörden jedoch nicht berechtigt, zu prüfen, ob deren Inhalt dem
auszuführenden Gesetze entspricht und ob die Verordnung in das Gebiet der Gesetzgebung
übergreift.
Die Prüfung der Behörden hat sich mithin sowohl bei Gesetzen 2 als bei
1 Übereinst. Arndt, Verf. Urk., S. 369; An-
schütz in v. Holtzendorff-Kohlers Enzykl., Bd. IV,
S. 158. Anderer Ansicht war v. Rönne, der
hierüber in der 4. Aufl. ausführte (I, S. 405,
Note 3): „Es kann zwar nicht in Abrede ge-
stellt werden, daß die ministerielle Gegenzeich-
nung, sowie auch die Klausel in den enuntia-
tiven Eingangsworten eines Gesetzes mit Zu-
stimmung der beiden Häuser des Landtages",
und endlich bei oktroyierten Verordnungen die
Bezugnahme auf den Art. 63 der Verf. Urk.,
nicht zur Publikation, sondern zur Pro-
mulgation gehören; wenn indes hieraus ge-
folgert worden ist (vgl. Dulheuer, Die Ele-
mente des Preuß. Rechts, S. 10, Note 15), daß
die Behörden nicht das Recht haben, das Vor-
handensein der gedachten Essentialien eines Ge-
setzes oder einer Verordnung zu prüfen, so kann
dem nicht beigetreten werden. Der Art. 106 der
Verf. Urk. bestimmt keineswegs, daß den Behör-
den nur das Recht zusteht, die gesetzmäßige
Publikation zu prüfen, sondern er bestimmt
vielmehr zweierlei, nämlich: a) daß Gesetze
und Verordnungen nur dann verbindlich sind,
wenn sie in der vom Gesetze vorgeschriebenen
Form bekannt gemacht worden (Publikation), und
b) daß die Prüfung der Rechtsgültigkeit ge-
hörig verkündeter königlicher Verordnungen
den Behörden nicht zusteht. Hieraus folgt
aber gerade, daß den Behörden die Prüfung der
Promulgation keineswegs unbedingt entzogen
sein soll. Denn wäre dies beabsichtigt wor-
den, so hätte es nur des ersten Satzes des
Art. 106 bedurft und der zweite Satz würde
ganz überflüssig sein. Das Wort „Rechtsgültig-
keit" in diesem letzteren soll vielmehr nur be-
zeichnen, daß die Behörden sich mit der Frage
der materiellen Verfassungsmäßigkeit königl.
Verordnungen nicht befassen dürfen. Dagegen
ist ihnen weder verboten, die formelle Frage
zu untersuchen, ob ein Gesetz oder eine Verord-
nung in gesetzmäßiger Form publiziert wor-
den, noch auch zu prüfen, ob sie wirklich die
Eigenschaft von Gesetzen oder Verordnun-
gen besitzen, d. h. ob sie äußerlich diejenigen Be-
dingungen erfüllen, welche hierzu von der Ver-
fassung vorausgesetzt werden und ohne deren Vor-
handensein sie sich zwar den Namen beilegen
mögen, aber im Sinne der Verfassung
dessenungeachtet weder Gesetze noch Verordnun-
gen, sondern ein verfassungsmäßig gar nicht
existierendes Produkt sind. Vgl. auch Stahls
Philosophie des Rechts, 3. Aufl., Bd. II, Abt. 2,
S. 10. Daß auch die Staatsregierung bisher
wenigstens von dieser Auffassung ausgegangen
ist, ergibt sich daraus, daß seit Emanation der
Verf. Urk. keine Gesetze und keine Verordnungen
publiziert worden sind, welche nicht den verfas-
sungsmäßigen Erfordernissen betreffs der Gegen-
zeichnung bzw. der enuntiativen Eingangsworte
entsprächen"“ — Diese Deduktion ist richtig für
Verordnungen, nicht aber für Gesetze. Oder sollen
die Behörden etwa prüfen, ob die Abstimmung
durch ein beschlußfähiges Haus erfolgte, ob der
Präsident die Abstimmung richtig vorgenommen
hat? S. auch Bornhak, Bd. I, S. 553f.
2 Die in der D. Gerichtsztg. (Jahrg. 1863,
Nr. 26, S. 108, Jahrg. 1864, Nr. 50, S. 200)
ausgesprochene ansicht, daß nach der Verf. Urk.
in dieser Beziehung ein Unterschied zwischen Ge-