Full text: Das Staatsrecht der Preußischen Monarchie. Dritter Band. Erste Abteilung. (3_1)

68 Die Gesetzgebung. 
G. 117.) 
her, daß die Mitglieder beider Kammern und alle Staatsbeamte dem Könige den 
Eid der Treue und des Gehorsams leisten und die gewissenhafte Beobachtung der Verfassung 
beschwören sollen.? Zugleich hat aber der Art. 108 die Bestimmung aufgenommen, daß 
  
Stahl (a. a. O., S. 297 ff.) sich dahin aus, „daß 
dieser Eid die Beobachtung der Gesetze über- 
haupt in sich schließe"“, und bemerkt, hieran 
anknüpfend, „daß selbst die Frage, ob man die 
Verfassungsurkunde oder die Verfassung be- 
schwöre, im rechtlichen Erfolge nicht von Belang 
sei, wenn anders die Verf. Urk. auch das ältere 
Recht, soweit es nicht durch sie besonders aufge- 
hoben ist, als fortdauernd anerkennt (wie dies 
der Art. 109 der preuß. Verf. Urk. getan hat). 
Denn in welchem Verhältnisse diese Urkunde zu 
den anderen Teilen der Verfassung steht, be- 
stimme sich in beiden Fällen notwendig nach ihr 
selbst, als dem obersten oder doch dem neuesten 
Gesetze. Die Verfassung im ganzen und nicht 
bloß die Urkunde zu beschwören habe nur das 
Interesse, daß man nicht der Mißdeutung Raum 
gebe, als wenn das Recht nur in und kraft der 
Urkunde bestände“. Es ist dies dieselbe Auf- 
fassung, welche (in den Sitz. der 1. K. v. 17. Dez. 
1849 und v. 29. Jan. 1850) der Abgeordn. v. Ger- 
lach entwickelt hatte (vgl. Stenogr. Ber. der 1. K. 
1849—50., Bd. IV, S. 2046—47, und Bd. V, 
S. 2377) und welcher schon damals der Abgeordn. 
Stahl (a. a. O., S. 2378) beitrat, indem er er- 
klärte, „daß er (und seine politischen Gesinnungs- 
genossen) den Verfassungseid in diesem Sinne 
zu leisten gedächten, und daß der Eid sich nur 
auf die Gesetze der Verfassung, nicht aber auf 
die Prinzipien und Motive beziehe“". Diese Auf- 
fassung hat Stahl auch später (vgl. Rechtsphilo- 
sophie a. a. O., S. 297, Note ') ausdrücklich auf- 
rechterhalten und hinzugefügt, „daß nur in einem 
Staate, wo die Charte das öffentliche Recht außer 
ihr für aufgehoben erklärt, ein diametraler 
Gegensatz zwischen dem Schwur auf die ganze 
(geschichtlich überkommene) Verfassung und dem 
Schwur auf die Charte vorhanden sei; denn hier 
sei es ebendeshalb nicht möglich, die Charte als 
einen Teil der Verfassung zu beschwören, sondern 
man beschwöre entweder die ganze geschichtlich 
überkommene Verfassung mit Ausschließung der 
Charte, oder aber die Charte mit Ausschließung 
dieser Verfassung“. — Diese Interpretation des 
Verfassungseides wurde indes, als sie kurz vor 
der feierlichen Beeidigung der Verfassung von den 
Abgeordn. v. Gerlach und Stahl in der 1. K. 
kundgegeben worden war, sofort als eine dem 
wahren Sinne dieses Eides zuwiderlaufende, eine 
unstatthafte reservatio mentalis enthaltende, 
bezeichnet (vgl. die Erklär. der Abgeordn. Tam- 
nau, Camphausen u. Grafen v. Helldorf in 
den Stenogr. Ber. der 1. K. 1849—50, Bd. V, 
S. 2377 u. 2378). Auch v. Rönne (4. Aufl., 
Bd. II, S. 345, Anm.) war der Ansicht, daß die- 
selbe die Bedeutung und das Wesen des Ver- 
fassungseides verkenne. Dieser Eid könnte „keinen 
andern Sinn und Zweck haben, als den, die 
gewissenhafte Beobachtung des durch die Verf. 
Urk. festgestellten verfassungsmäßigen Rechtszu- 
standes durch die Ableistung des in Art. 108 der 
Verf. Urk. vorgesehenen promissorischen Eides 
unter diejenige besondere Garantie zu stellen, 
  
welche die Schärfung des Gewissens über- 
haupt zu geben vermag. Nur auf den Inhalt 
des verfassungsmäßig vereinbarten öffent- 
lichen Rechtes hat der Eid Bezug, und dieser Eid 
hat wesentlich die Bedeutung, daß er den Schwören-= 
den in seinem Gewissen verpflichtet, sich auf den 
Boden der beschworenen Verfassung zu stellen, 
welche (laut Art. 109 der Verf. Urk.) die früheren 
(nicht beschworenen) Gesetze und Verordnungen 
nur insoweit aufrechterhält, als sie der neuen 
Verfassung nicht zuwiderlaufen, und folglich auch 
keine neuen Spezialgesetze und Verordnungen 
neben sich duldet, als welche mit dieser neuen 
Verfassung vereinbar sind (vgl. auch Art. 63 u. 
106 der Verf. Urk.).“ In diesen Ausführungen 
erkennt aber v. Rönne selbst an, daß das alte 
Recht in Kraft geblieben sei, insoweit es nicht 
der neuen Verfassung zuwiderlaufe, wie dies 
Art. 109 der Verf. Urk. ausdrücklich ausspricht. 
Etwas anderes besagt aber auch der Stahl- 
Gerlachsche Vorbehalt nicht: der Verfassungseid 
bezieht sich nicht bloß auf die Verfassungsurkunde, 
sondern auch auf das ältere, durch diese Urkunde 
nicht außer Kraft gesetzte, vielmehr vorausgesetzte 
Verfassungsrecht. 
1 Eine Vereidigung aller männlichen Staats- 
bürger, welche frühere Verf. Urk. anordneten 
(z. B. Württemberg Verf. Urk. von 1819, §. 20, 
Schwarzburg-Sondershausen Verf. Urk. von 1849, 
§. 7, S.-Koburg-Gotha Verf. Urk. von 1852, 
§. 28, Kurhessen Verf. Urk. von 1831, S§. 21, 
Braunschweig nach Landesordn. von 1832, §. 56), 
ist in der preuß. Verf. Urk. nicht vorgeschrieben. 
Die Mitglieder beider Häuser der Volksvertretung 
leisten den Eid als Vertreter der ganzen Nation 
(vgl. auch Art. 83 der Verf. Urk.). 
2 Diese Bestimmung findet sich bereits im 
§. 78 des von der Staatsregierung vorgelegten 
Verf. Entw. v. 20. Mai 1848 und in Art. 106 
des Verf. Entw. der Komm. der Nat. Vers., wo 
dieselbe dahin lautet: „Die Mitglieder der beiden 
Kammern, alle Staatsbeamte und das Heer (die 
bewaffnete Macht) haben dem Könige und der 
Verfassung Treue und Gehorsam zu schwören.“ 
In dieser Fassung (jedoch mit Weglassung der 
Worte: „das Heer“, oder — wie es in dem Entw. 
der Verf. Komm. der Nat. Vers. heißt — „die 
bewaffnete Macht“) ist die Bestimmung auch in 
den Art. 107 der Verf. Urk. v. 5. Dez. 1848 über- 
gegangen und die revidierenden Kammern be- 
schlossen, hierin nichts zu ändern, sondern nur 
den Zusatz zu machen, daß eine Vereidigung des 
Heeres auf die Verfassung nicht stattfinden solle. 
Allein die königl. Botschaft v. 7. Jan. 1850 
(Proposition XIV) erklärte, daß die angenommene 
Fassung nicht korrekt sei. Man könne zwar von 
einer Vereidigung auf die Verfassung oder 
von der Beschwörung ihrer gewissenhaften Be- 
obachtung reden; aber es sei nicht korrekt, zu 
sagen, daß der Verfassung Treue und Gehor- 
sam geschworen werde, wenigstens eigne eine 
solche Personifikation sich nicht für die Gesetzes- 
sprache. Die beiden Kammern sind infolgedessen 
 
	        
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