Die besonderen Garantien der Verfassung. (S. 117.) 89
ausdrücklich verbietet, so muß angenommen werden, daß dieselbe verfassungsmäßig nicht
ausgeschlossen sei.
III. Daß jede Verfassungsänderung ein ausdrücklich darauf gerichtetes „Verfas-
sungsänderungsgesetz“, welches die Bestimmungen darüber enthält, welcher Punkt
der Verfassung aufgehoben oder durch eine andere Vorschrift ersetzt werden soll, erfordere,
wie dies v. Rönne in den früheren Auflagen dieses Werkes (4. Aufl., Bd. II, S. 367)
behauptete, kann mangels einer hierauf gerichteten positiven Vorschrift als Rechtssatz
nicht anerkannt werden. Demnach ist es auch als rechtlich statthaft zu erachten, was
v. Rönne als „ganz unstatthaft“ bezeichnete, nämlich die Verfassung bei Gelegenheit des
Erlasses eines Spezialgesetzes durch dieses dergestalt zu ändern, daß es nur einer zwei-
maligen Abstimmung mit dem Zwischenraum von einundzwanzig Tagen darüber bedürfe.?
Ob dies zweckmäßig sei, ist keine Frage des Rechtes, sondern lediglich der Politik.
IV. Die durch verfassungsmäßig zustande gekommene Verfassungsänderungsgesetze
angeordneten Abänderungen der Verfassung treten vollständig in die Bedeutung der ur-
sprünglich in der Verfassungsurkunde enthaltenen abgeänderten Sätze. Sie stehen mithin
zu den niedrigeren Arten von Normen der Gesetze ganz in demselben Verhältnisse, wie
die Verfassungsurkunde selbst, und können ebenso wie die Verfassungsurkunde nur unter
Beobachtung der in Art. 107 vorgeschriebenen erschwerenden Form wieder abgeändert
oder aufgehoben werden.5
V. Wenn die Verfassungsurkunde in Art. 107 bestimmt, daß „die Verfassung"“
auf dem ordentlichen Wege der Gesetzgebung, unter Beobachtung der daselbst an-
1 Die Frage ist in der (vormaligen) 1. K. Betracht zu ziehen.
streitig geworden. Sie ist, da die Verf. Urk. nicht
darüber entscheidet, eine Frage der Zweckmäßig-
keit und es muß angenommen werden, daß jedem
Hause das Recht zusteht, über die Zulassung und
Nichtgestattung einer solchen Diskussion zu ent-
scheiden. Die 1. K. hat den Beschluß gefaßt, in
ihre Geschäftsordnung die Bestimmung aufßzu-
nehmen, daß bei der in Art. 107 vorgeschriebenen
zweiten Abstimmung über Verfassungsänderungen
keine Diskussion stattfinde, und diese Bestimmung ist
auch in die neueste Geschäftsordnung des H. H.
(§. 60) übergegangen. Dagegen enthielt die
frühere Geschäftsordnung des A. H. gar keine Be-
stimmungen hierüber und die Praxis dieses Hauses
gestaltete sich dahin, daß die nochmalige Dis-
kussion zugelassen wurde und daß es in jedem
einzelnen Falle von dem Beschlusse des Hauses
abhängig war, ob dasselbe auf eine nochmalige
Beratung eingehen wolle oder nicht (vgl. Stenogr.
Ber. des A. H. 1855— 56, Bd. II, S. 525—
526). Die neueste Gesch. O. des A. H. v. 16. Mai
1876 hat (in §. 19) bestimmt, daß die nach
Art. 107 der Verf. Urk. bei Abänderungen der
Verfassung erforderliche zweite Abstimmung in
den Formen der dritten Beratung (8. 18) er-
folgt, welcher ausdrücklich eine Diskussion, und
zwar sowohl über „die Grundsätze des Entwurfs“
als „über die einzelnen Paragraphen“ zuläßt.
Für die Zulassung einer zweiten Diskussion
spricht entschieden der Zweck der in Art. 107
vorgeschriebenen zweimaligen Abstimmung, wel-
cher dahin gerichtet ist, übereilten Abänderungen
der Verfassung vorzubeugen. Die Zwischenfrist
von 21 Tagen ist dazu bestimmt, der öffentlichen
Meinung Zeit zu gewähren, sich über die vor-
läufig beschlossene Verfassungsänderung zu äußern,
und den Kammern Zeit und Gelegenheit zu geben,
die öffentliche Meinung zu vernehmen und in
Es ist also vorausgesetzt,
daß, wenn etwa eine Ubereilung stattgefunden,
oder wenn eine weniger gut unterrichtete Kammer
den ersten Beschluß gefaßt haben sollte, bei der
zweiten Abstimmung an die besser unterrichtete
Kammer appelliert werden sollte. Wenn aber
dieser Zweck erreicht werden soll, so muß es zu-
lässig sein, vor der zweiten Abstimmung eine
nochmalige gründliche Erörterung unter Berück-
sichtigung aller in der Zwischenzeit im Schoße
der Kammern wie in weiteren Kreisen ange-
stellten Betrachtungen eintreten zu lassen (vgl. die
motivierte Erklärung der Abg. v. Rönne und
Gen. v. 20. Febr. 1852 in den Stenogr. Ber. der
1. K. 1851—52, Bd. I, S. 414). Vgl. über-
haupt über diese Frage die Debatten in der 1. K.
in den Stenogr. Ber. derselben 1851—52, Bd. I,
S. 368—370 u. 674—678, desgl. den Ber. der
Gesch. O. Komm. der 1. K. v. 28. Febr. 1852
in den Drucks. derselben von 1852—53, Bd. III,
Nr. 137.
* Vgl. hierüber auch Laband, II, S. 39 ff.;
Dambitsch, Kommentar zur R. Verf., S. 682;
Schwartz, Verf. Urk., S. 337; v. Schulze,
Pr. St. R., Bd. II, S. 56; Arndt, Verf. Urk.,
S. 372; v. Stengel, S. 171; Bornhak#-, I,
S. 558; sämtlich gegen v. Rönne mit dem Text
übereinstimmend.
3 Was v. Rönne, 4. Aufl., Bd. II, S. 368, V,
über „Zusätze zur Verf. Urk., durch welche der
Inhalt des Staatsgrundgesetzes überall gar nicht
berührt wird“, die demgemäß nach dem einfachen
Wege des Art. 62, ja selbst nach Art. 63 erlassen
werden könnten, ausführte, ist unverständlich.
„Zusätze zur Verf. Urk.“ berühren deren Inhalt
immer und müssen daher immer in der er-
schwerenden Form der Verfassungsgesetzgebung
behandelt werden.