Unterrichtszwang. (§. 136.) 265
urkunde bestimmt nämlich, daß „Eltern und deren Stellvertreter ihre Kinder oder Pflege-
befohlenen nicht ohne den Unterricht lassen dürfen, welcher für die öffentlichen Volks-
schulen 1 vorgeschrieben ist“.?
Der hierdurch von der Verfassungsurkunde ausgesprochene Grundsatz ist im preußi-
schen Staate bereits vor Erlaß des Staatsgrundgesetzes gesetzlich festgestellt worden; die
Bestimmung des zweiten Absatzes des Art. 21 gehört daher nicht zu denjenigen, welche
vorläufig für suspendiert zu erachten sind. Das Allgemeine Landrecht 3s hat nämlich in
Teil II, Tit. 12 bereits bestimmt, daß jeder Einwohner, welcher den nötigen Unterricht
für seine Kinder in seinem Hause nicht besorgen kann oder will , schuldig sei, dieselben
nach zurückgelegtem fünften Jahre zur Schule 5 zu schicken 5 (F. 43), und daß nur unter
Genehmigung der Obrigkeit und des geistlichen Schulvorstehers ein Kind länger von der
Schule zurückgehalten, oder sein Schulunterricht wegen vorkommender Hindernisse für
einige Zeit ausgesetzt werden kann (§. 44)7, sowie daß der Schulunterricht so lange
fortgesetzt werden muß, bis ein Kind, nach dem Befunde seines Seelsorgers, die einem
jeden vernünftigen Menschen seines Standes notwendigen Kenntnisse erworben hats
u. 22 und im allgemeinen über die (nicht unbe-
strittene) Frage, ob der Staat überhaupt die
Berechtigung habe, eine Nötigung zum Schul-
besuche auszusprechen: v. Mohl, Polizeiwissen-
schaft, 2. Ausg., Bd. I, S. 465; Bluntschli,
Allgem. St. N., 2. Aufl., Bd. II, S. 344 ff.
1 Uber den Begriff der „öffentlichen Volks-
schule“ im Sinne der Verf. Urk. vgl. oben S. 262,
Note 1.
2 Der Entw. der Verf. Komm., der Nat. Vers.
(Art. 22, Satz 3) hatte statt dessen folgende Be-
stimmung: „Die Eltern oder Vormünder sind
verpflichtet, ihre Kinder oder Pflegebefohlenen in
den Elementargegenständen unterrichten zu lassen.
Die Befugnis der Eltern oder Vormünder, dar-
über zu bestimmen, wo ihre Kinder oder Pflege-
befohlenen unterrichtet werden sollen, darf auf
keine Weise beschränkt werden“. Dagegen be-
stimmte der Art. 22, Satz 6 des Entw. der
Zentralabt. der Nat. Vers.: „Eltern und Vor-
münder sind verpflichtet, ihren Kindern oder
Pflegebefohlenen den zur allgemeinen Volksbil-
dung erforderlichen Unterricht erteilen zu lassen,
und müssen sich in dieser Beziehung den Be-
stimmungen unterwerfen, welche das Unterrichts-
gesetz aufstellen wird.“ Der Zentralausschuß
nahm nämlich an, daß durch die Bestimmung
des Art. 22, Satz 3 des Entw. der Verf. Komm.
die für den Staat erforderliche Bürgschaft, daß
der nötige Unterricht in zureichender Weise erfolge
und das unerläßliche Ergebnis liefere, nicht ge-
boten sei. Denn abgesehen von der unbedingt
freigegebenen Unterrichtserteilung könne ein Unter-
richt bloß „in den Elementargegenständen“
auf ein Mindestmaß zusammenschrumpfen, wel-
ches den gerechten Anforderungen des Staates
und der menschlichen Würde nicht mehr entspräche;
deshalb sei die Verpflichtung zur Empfangnahme
des zur allgemeinen Volksbildung er-
forderlichen Unterrichts auszusprechen (vgl.
die angeführten amtl. Erläuter, des Min. v. Laden-
berg S. 22). Diese Fassung ist wörtlich im
Art. 18, Satz 2 der oktroy. Verf. Urk. v. 5. Dez.
1848 beibehalten, jedoch bei der Revision in der
Weise, wie oben im Texte mitgeteilt, abgeändert
worden, indem die revidierenden Kammern sich
derjenigen Fassung anschlossen, welche der §. 153
des Entw. der Unionsverf. und §. 155 der R. V.
von 1849 gewählt hatten.
a. a. O., S. 378 f.
3 Schon die fg. v. 28. Sept. 1717 (C. C.
M. I, 1, S. 527) und das Generallandschul-
reglement v. 12. Aug. 1763, §§. 1—5 (Mylius,
N. C. C. Teil III, S. 265; Rabes Samml.,
Bd. I, Abt. 2, S. 557; v. Rönne, Unterrichts-
wesen, Bd. 1, S. 64) haben den Schulzwang in
ähnlicher Weise, wie das A. L. R. ihn anordnet,
eingeführt.
4 Ebenso befreit vom Schulzwang der Empfang
ausreichenden Unterrichts in einer Privatschule
sowie der Besuch einer höheren Schule.
5 Über die örtlich zuständige Schule und den
Schulbezirk vgl. Dirksen, Art. Belteschinge
in v. Stengel- Fleischmanns W. St. V. R.
Bd. III, S. 827.
6 Val. auch die Vorschriften des A. L. R. II, 2,
§§. 74, 75, 90, 91, 266, 512, und in betreff der
Vormünder: A. L. N. II, 18, S§. 308, 311.
* Gut entwickelte Kinder können vom Orts-
schulinspektor vorzeitig zugelassen, schwache zurück-
gestellt werden. Uber Befreiung vom Schul-
besuch vgl. S. 44 A. L. R. II, 12; Ges. v. 28. Aug.
1905 betr. die Bekämpfung übertragbarer Krank-
heiten (G. S. 1905, S. 373) §. 8; Min. Erl. v.
7. Okt. 1905 (M. vl. f. Med. Angel. „ S. 389),
v. 10. Aug. 1906 (M. Bl. f. Med. Angel. Nr.
16, Beilage), v. 9. Juli 1907 (Z. U. V., S. 615 ff.),
25. Jan. 1908 (3. U. V., S. 378), 17. u. 24. Febr.
1908 (3Z. U. V., S. 431, 433), 17. Juni 1913
(M. Bl. f. Med. Angel., S. 219); Dirksen
in v. Stengel-Fleischmanns W. St. V. R.2, Bd. III,
S. 825.
8s Das Maß der vom Staate für erforderlich
erachteten Kenntnisse ist durch den Art. 21 der
Verf. Urk. jetzt anderweitig dahin normiert, daß
der Unterricht ein solcher sein müsse, welcher für
die „öffentlichen Volksschulen vorgeschrieben ist“.
Vgl. hierüber oben S. 262, Note 1. Ferner darf
der Abgang von der Schule nicht vor Ablauf des
Schuljahres erfolgen.
Die Nötigung der Eltern, welche sich zu einer
dissidentischen Religionsgesellschaft halten, ihre
Kinder einem anderen. Religionsunterrichte als
dem ihrer Religionsgesellschaft anzuvertrauen, ist
als eine Beeinträchtigung der ihnen durch die
Verf. Urk. gewährleisteten Religionsfreiheit und
Vgl. auch Anschütz