Ortsgemeinden; das geltende Recht. (8. 17.) 71
Gewaltbefugnisse gegenüber ihren Gliedpersonen, sie unterwirft diese ihren Satzungen
und übt über sie durch ihre Organe ein Aufsichts= ja bisweilen ein gewisses Strafrecht
aus. — Die Rechte der Gemeinden auf diesem Gebiete sind jedoch wesentlich verschieden
von denen der gewöhnlichen privatrechtlichen Körperschaften, der Aktiengesellschaften, ein-
getragenen Genossenschaften u. s. w. durch den ihnen innewohnenden hoheitlichen Charakter.
Die Korporationsgewalt der Gemeinden als öffentlich-rechtlicher Körperschaften ist eben
zur Ausübung übertragene Staatsgewalt. Sie „stellt sich nicht mehr als Privat-
gewalt, sondern als öffentliche Gewalt mit obrigkeitlichem Charakter dar. Die auto-
nomische Satzung nimmt an den Eigenschaften des Gesetzes teil. Die Organe, Behörden
und Beamten gelten als Träger öffentlicher Funktionen. Die Lebensordnung der Körper-
schaft, ihr Verfassungs= und Verwaltungsrecht, wird als Bestandteil der öffentlichen Ord-
nung gewertet. Alle Zustände und Vorgänge dieses besonderen Gemeinlebens rücken,
obschon sie keineswegs dem Staatsleben angehören, unter die Herrschaft des öffentlichen
Rechtes, woraus denn der Ausschluß des Rechtswegs in den inneren Streitigkeiten des
Verbandes, die Gewährung des Verwaltungszwangs gegen die Mitglieder, die Bekleidung
der Amtshandlungen von Verbandsorganen mit erhöhter Autorität und öffentlichem
Glauben, ein qualifizierter strafrechtlicher Schutz der körperschaftlichen Rechte und Inter-
essen und ähnliche wichtige Folgen“! sich ergeben.
3) Die dritte Kategorie von Rechten und Pflichten der Gemeinde ergiebt sich daraus,
daß auch sie wieder Gliedkörper einer weiteren, über ihr stehenden Gesamtperson ist.
Alle Gemeinden, mit Ausnahme der größeren Städte, welche für sich einen Kreis bilden,
sind zunächst den Kreisen eingeordnet; ihre Pflichten diesen gegenüber bestehen besonders
in der Aufbringung oder eventuell in der Selbstleistung der Kreisabgaben, wogegen
ihnen in gewissen Fällen ein Recht auf Unterstützung durch die Kreiskorporationen?, sowie
eine Teilnahme an der Willensbildung derselben durch Entsendung von Abgeordneten
zum Kreistage eingeräumt ist. Des weiteren werden die Gemeinden zu einer Einheit
im Provinzialverbande zusammengefaßt, der, abgesehen von Beihilfen, welche er Ge-
meinden direkt gewährt 3, in unmittelbare Beziehungen nur zu den Stadtkreisen tritt,
indem nur auf diese die Provinzialabgaben mitverteilt werden und nur sie zur Wahl
von Abgeordneten in die Provinzialvertretung berechtigt sind."“ Endlich sind die Ge-
meinden wie alle anderen Verbände und Einzelpersonen der souveränen Gemeinschaft,
dem Staate, untergeordnet. Die Funktionen, welche den Gemeinden als Teile des staat-
lichen Organismus obliegen, sind weiter unten bei Besprechung ihres Wirkungskreises
überhaupt zu erörtern, hier mag nur darauf hingewiesen werden, daß einer Anzahl
größerer Städte durch die Befugnis, ein Mitglied des Stadtvorstandes zum Herren-
hause zu präsentieren, auch ein Einfluß auf die Bildung des staatlichen Willens ein-
geräumt ist.“
II. 1) Erkennt man im Gegensatze zur romanistischen Lehre 5, nach welcher alle
juristischen Personen nur Fiktionen und daher schlechthin willens= und handlungsunfähig
sind, nach germanistischer Anschauung die Korporationen und Gemeinden als wirkliche
real existente Wesen an, so muß man ihnen, ebenso wie den physischen Personen, nicht
nur Rechtsfähigkeit, sondern auch Willens= und Handlungsfähigkeit als eine Wesens-
eigenschaft zuerkennen. Dies hat in neuerer Zeit die Gesetzgebung wie auch die Recht-
sprechung gethan, allein mit der Maßgabe, daß sie die Willensbildung wie Willens-
1 Gierke, a. a. O., S. 168.
* Bgl. z. B. über die Verpflichtung der
Kreise in Ostpreußen als Landarmenverbände
verband in den Provinzen außer Ostpreußen
und ferner nach §. 4 des Dotationsges. v.
8. Juli 1875 (G. S., S. 497).
zur Unterstützung der leistungsunfähigen Ge-
meinden als Ortsarmenverbände s§. 36 des
Ausführungsges. zum Unterstützungswobnsttz-
ges. v. 8. März 1871 (G. S., S. 130), über
die Beitragspflicht der Kreise ur sog. außer-
ordentlichen 1#s Vt. des Ges. v.
11. Juli 1891 (G. S . 300) und unten
8. 118.
* So auch in der Eigenschaft als Landarmen-
* In Posen sind alle Städte in einem be-
sonderen Stande auf dem Landtage vertreten.
Hierüber das Genauere unten beim Recht der
Prerinzn.
8. 4, Z. 6 der B wegen Bildung der
Ersten Rrhe v. 12. Okt. 1854 (G. S., S.
541). . ·
* Vgl. über diese Windscheid, Pand., I,
8. 59.