Full text: Das Staatsrecht der Preußischen Monarchie. Ergänzungsband. Das Recht der Kommunalverbände in Preußen. (4)

Ortgemeinden; das geltende Recht. (8. 20.) 83 
II. Zur Begründung eines Wohnsitzes ist jeder Angehörige des Deutschen Reiches 
an jedem Orte berechtigt, wo er im stande ist, sich eine eigene Wohnung oder ein Unter- 
kommen zu verschaffen; Unselbständige bedürfen der Genehmigung desjenigen, unter dessen 
Gewalt sie stehen. 
Zur Abweisung des neu Anziehenden ist die Gemeinde nur dann befugt, wenn sie 
nachweisen kann, daß er nicht hinreichende Kräfte besitzt, um sich und seinen nicht 
arbeitsfähigen Angehörigen den notdürftigen Lebensunterhalt zu verschaffen, solchen auch 
weder aus eigenem Vermögen bestreiten kann, noch ihn von einem dazu verpflichteten 
Verwandten erhält. Aus bloßer Besorgnis vor künftiger Verarmung darf die Gemeinde 
niemand die Niederlassung untersagen. 
Die Fortsetzung des Aufenthaltes kann die Gemeinde nur dann versagen, wenn sich 
nach dem Anzuge, aber bevor der Anziehende seinen Unterstützungswohnsitz in ihr er- 
worben hat, die Notwendigkeit einer öffentlichen Unterstützung herausstellt und die Ge- 
meinde nachweist, daß die Unterstützung aus anderen Gründen als wegen einer nur 
vorübergehenden Arbeitsunfähigkeit notwendig geworden ist. Die Ausweisung selbst darf 
aber auch hier nur erfolgen, nachdem entweder die Annahmeerklärung der zur Fürsorge 
für den Auszuweisenden verpflichteten Gemeinde oder wenigstens eine einstweilen voll- 
streckbare Entscheidung über die Fürsorgepflicht erfolgt ist.1 
  
rumque rerum constitutionem fecisset; I. 17, 
55. 13 D. ad municip. 50, 1: sola domus 
Possessio — domicilium non facit. 
Für die Absicht ist wesentlich, daß sie darauf 
gerichtet ist, den dauernden Aufenthalt an 
einem Orte zu nehmen, und sie wird sich dann 
meistens durch Mieten einer Wohnung doku- 
mentieren. Wird aber diese Absicht durch 
andere Umstände, wie sie vorliegen, wenn sich 
jemand in einer Stadt nur aus geschäftlichen 
oder Gesundbeitsrücksichten oder Studierens 
halber aufhält, ausgeschlossen, so tritt der Er- 
werb des Wohnsitzes trotz des vorhandenen 
realen Momentes der Wohnung nicht ein (Allg. 
Ger. O., §. 15, I, 2). Auch mit den in der Allg. 
Ger. O. angegebenen konkludenten Handlungen 
ist diese Absicht und daher die Begründung 
eines Wohnsitzes nicht notwendig verbunden, 
sie wird z. B. bei Beginn eines Gewerbebe- 
triebes dadurch ausgeschlossen, daß der Be- 
treffende der Ortsbehörde gegenüber in glaub- 
hafter Weise erklärt, seinen Wohnsitz am Orte 
nicht nehmen, sondern bald weiterziehen zu 
wollen. Der Amtssitz wird in der Regel der 
Wohnsitz des Beamten sein, weil er an die- 
sem Orte gewöhnlich seine Wohnung nimmt 
und dann an ihm nicht nur seinen Amts- 
geschäften nachgeht, sondern seine ganze Thätig- 
keit entfaltet. Allein auch hiervon sind Aus- 
nahmen denkbar. Wohnt ein Beamter, der den 
ganzen Tag üÜüber in der Stadt seinem Lebens- 
unterhalte nachgeht, in einem Vororte und bringt 
er hier nur die abendlichen Feierstunden im 
Kreise seiner Familie zu, so hat er nur hier 
und nicht in der Stadt seinen Wohnsitz, denn 
nur hier hat er, wie das O. V. G. sagt, den 
rein menschlichen Mittelpunkt seiner Verhält- 
nisse, nur hier hat er die Absicht, einen Wohn- 
sitz zu haben. O. V. G., XV, S. 62; vgl. 
auch XV, S. 51, wo ausgeführt ist, daß ein 
außerhalb einer Stadt wohnender Rechtsanwalt 
in derselben nicht schon durch Errichtung und 
Unterhaltung eines Bureaus und längere Thä- 
tigkeit in diesem seinen Wohnsitz begründet. 
Bezüglich des objektiven Moments ist zu er- 
wähnen, daß für die Beibehaltung des Wohn- 
sitzes an einem Orte der dauernde Aufenthalt 
an diesem nicht erforderlich ist. Ein Kauf- 
mann oder ein Schiffer, der dauernd auf Reisen 
ist und nur kurze Zeit jährlich an dem Orte, 
wo er seinen Wohnsitz begründet hat, ausruht, 
behält ihn dort bei, solange er den entsprechen- 
den Willen hat. 
Auch einen mehrfachen Wohnsitz kann jemand 
haben und dann Einwohner mehrerer Gemeinden 
sein, §. 27, Einleitung z. A. L. R. Vgl. über 
alle diese Punkte Näheres bei Ortel, S. 21 ff., 
und bei Marcinowski, S. 20 ff. . 
1 Bundesgesetz über die Freizügigkeit v. 1. Nov. 
1867 (ausgedehnt auf das Deutsche Reich durch 
Neichsgeses v. 22. April 1871), §§. 1, 2, 4, 5, 6. 
Das Recht des Einzelnen auf Aufenthalts= und 
Niederlassungsfreiheit genießt öffentlich-rechtlichen 
Schutz. Nicht lediglich die als Armenverband 
fungierende Gemeinde= bezw. in der Beschwerde- 
instanz die Kommunalaussichtsbehörde hat dar- 
über zu beschließen, ob die Voraussetzungen der 
Ausweisung gegeben sind, sondern die Entschei- 
dung über die AuslÜbung des Ausweisungs-- 
rechts steht der Polizei als Staatsbehörde zu. 
Sie erläßt auf Antrag der Gemeindebehörde die 
Ausweisungsverfügung, und diese unterliegt den 
Rechtsmitteln der §§. 127 ff. des L. V. G., also 
auch bezüglich der Frage, ob die Fortsetzung des 
Aufenthaltes mit Recht versagt ist, der Nach- 
prüfung im Verwaltungsstreitverfahren. O. V. 
G., VII, S. 364. Die weiteren Aufenthalts- 
beschränkungen, welchen bestrafte Personen nach 
§. 3 des Ges. v. 1. Nov. 1867 in Verbindung 
mit §. 2, Z. 2 des preußischen Ges. über die 
Aufnahme neu anziehender Personen v. 31. Dez. 
1842 unterworfen werden dürfen, und die 
übrigens nie dahin führen können, daß einem 
entlassenen Sträfling der Aufenthalt an seinem 
bisherigen Wohnsitze untersagt wird, gehören 
nicht hierher, da sie nicht von der Gemeinde, 
sondern nur von der Landespolizeibehörde aus- 
gehen und sich daher als rein sicherbeitspolizei- 
liche Maßregeln darstellen. O. V. G., IX., 
S. 415. 
  
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