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Mit einer so umgrenzten politischen und staatsrechtlichen
Verantwortlichkeit des Kanzlers und der Staatssekretäre, deren
schärfere verfassungsmäßige Ausgestaltung nicht ausbleiben wird '),
hat sich unsere Ministerialverfassung im Reiche bewährt. Das Amt
einen sehr hohen Grad von Selbständigkeit gerade so üben, wie in ausgebildet
constitutionellen Ländern, wie England, und ich glaube, daß sich sogar diejenigen
Institute, die dem Reichskanzleramt als solchem mit untergeordnet sind — die Post-
verwaltung, die Telegraphenverwaltung und so auch wohl das künftige Reichsjustizamt —
einer sehr großen Selbständigkeit erfreuen und im Ganzen schwerlich klagen werden
über ein bureaukratisch bevormundendes Eingreifen; ich glaube auch, daß späterbin
diese Behörden einen noch höheren Grad von Selbständigkeit als jetzt haben werden;
nicht gegenüber dem Reichskanzler — der ist schon soweit, wie etwa ein englischer
Premierminister gegenüber den Cabinettsmitgliedern dasteht — aber auch gegenüber der
heutigen einheitlichen Leitung im Reichskanzleramte. - Auch da, meine Herren, warten
wir doch die Entwicklung der Zukunft noch etwas ab. Ich glaube, daß auch der
heutige Geschäftsumfang des Reichskanzlers auf die Dauer für eine einzelne Persön-
lichkeit zu viel sein wird.
Sie würden einmal nicht immer eine Persönlichkeit von dieser exceptionellen
Arbeitskraft, wie der jetzige Chef des Reichskanzleramtes (Delbrück) ist, aufzutreiben
vermögen .. .“ Der Kanzler verweist sodann auf die demnächst notwendigen Ab-
zweigungen selbständiger Reichsbehörden vom Reichskanzleramt. Er schließt mit
den Worten: „Ich resumiere mich. In der Stellung des Reichskanzlers und den An-
sprüchen, die ich mit ihr verbinde, liegt in keiner Weise ein Hindernis, die Selb-
ständigkeit der Ministerien, die dem Reichskanzler die Verantwortlichkeit tragen helfen,
so weit auszudehnen, wie die verfassungsmäßigen Berechtigungen des Bundesrates es irgend
gestatten. Wollen Sie aber einen Reichskanzler haben, der Ihnen persönlich verantwortlich
bleibt — moralisch und juristisch — dann müssen Sie ihm entweder die Befugnis geben, ver-
fügend einzugreifen in den Lauf eines Collegen, für. dessen Verfahren der Reichskanzler
die Verantwortung nicht mehr übernehmen will, oder Sie müßten ihm eine Berechtigung
beilegen, die ich nicht annehmen möchte, weil sie in das Majestätsrecht des Kaisers
eingreift und eingreifen würde, daß er die Entlassung eines bestimmten Ministers oder
hohen Beamten, für den er die Verantwortung nicht weiter übernehmen will, verfassungs-
mäßig als sein Recht fordern darf. Eines von beiden werden Sie einem Kanzler, der
verantwortlich sein soll, immer bewilligen müssen. Das Erste aber genügt, um den
Reichskanzler in den Stand zu setzen, eine seiner Verantwortlichkeit entsprechende
Macht zu üben, und steht andererseits, wenn Sie sich nicht einen unvernünftigen recht-
haberischen Reichskanzler denken, der sich in Dinge mischt, von denen er nichts
versteht, dem nicht entgegen, daß jeder Minister neben ihm sich frei entwickele, wie
Sie ihn irgend brauchen können.
ı) Neuere Versuche, die lex imperfecta des Art. 17 der Reichsverfassung in eine
lex perfecta zu verwandeln durch gesetzliche Bestimmung der Art der Geltendmachung der
staatsrechtlichen Verantwortlichkeit des Kanzlers und der Stellvertreter führten zu keinem
Ergebnisse. Ueber die dahin zielenden Anträge: Ablaß (No. 1063), Albrecht (No. 1036),
Graf Hompesch (No. 1037) vgl. Verhandlungen d. d. Reichstags 1909, Bd. 250.