Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Neunundzwanzigster Jahrgang. 1913. (54)

Anhang: Allzemeines. (November 30.) 761 
Unzuträglichkeiten mit sich bringen könne. Man beschloß auch, diese Mit- 
teilung dem Großfürsten gewissermaßen offiziell durch den General Matthien 
zukommen zu lassen, weil der General in seiner Eigenschaft als Beamter 
seinen Worten eine größere Bestimmtheit geben könnte, als ich das getan 
haben würde. So geschah es: am nächsten Morgen suchte der General den 
Großfürsten auf, dessen Wunsch sich noch verstärkt zu haben schien und der 
sich zu der vollkommensten Verschwiegenheit verpflichtete. Nun gab es kein 
Zurück mehr; Matthieu überbrachte persönlich dem Großfürsten das Gewehr 
und die Patronen, und Seine kaiserliche Hoheit beauftragte ihn, mir seinen 
wärmsten Dank zu übermitteln. Es scheint, daß die Prüfung der Waffe 
bei ihrem Besitzer einen günstigen Eindruck hervorrief, denn zwei Monate 
später kam der russische Militärattaché Baron Fredericks zu mir und fragte 
mich, ob unsere Artilleriedirektion geneigt wäre, einen Gewehrtypus zu 
studieren, der sich unserem Modell nähere und der später für Rechnung 
seiner Regierung in unseren Werkstätten hergestellt werden könnte.“ Freycinet 
verständigte seine Ministerkollegen und wies darauf hin, daß sich aus dieser 
Angelegenheit zweifellos ein näherer Kontakt mit Rußland ergeben könne. 
Man pflichtete ihm bei, man erklärte sich bereit, die russischen Wünsche zu 
erfüllen, und alsbald trafen russische Artilleriegenerale in Paris ein, bald 
darauf noch drei „Pulver-Ingenieure, die beauftragt waren, unsere Pulver- 
fabrikation zu studieren im Hinblick auf die Errichtung ähnlicher Anstalten 
in Rußland“. Man führte die wißbegierigen Russen überall herum, „sie 
bewunderten die Dispositionen“ der Pulverfabrik, zugleich arbeitete man 
an dem neuen russischen Gewehr, und im Verlaufe der Versuche fragte der 
russische Militärattaché, ob die Werkstätten von Chatellerault einen Auftrag 
auf 500000 Gewehre übernehmen würden; ein zweiter Auftrag gleichen 
Umfanges werde folgen. „Sehr gern,“ antwortete ich, „wir werden darüber 
reden, wenn ich mit unserer Artilleriedirektion gesprochen habe. Immerhin,“ 
fügte ich halb lachend hinzu, „möchten wir die Gewißheit haben, daß diese 
Gewehre niemals gegen uns losgehen werden.“ Worauf er mir im gleichen 
Tone erwiderte: „Das ist durchaus unsere Auffassung, und in dieser Hin- 
sicht geben wir Ihnen jede Garantie.“ Der russische Botschafter bestätigte 
später die Worte des Militärattaches, der Auftrag wurde erteilt, die Her- 
stellung der Gewehre begann und mit ihr die Besprechungen, die später 
zum Abschluß des Bündnisses führen sollten.“ Von besonderem Interesse 
sind Freycinets Aufzeichnungen über die Unterhaltungen, die er etwa um 
die gleiche Zeit und noch später mit dem deutschen Botschafter Grafen 
Münster führte, den Freycinet als Menschen und Persönlichkeit hochschätzte. 
„Eines Tages, als ich mit ihm und seiner Tochter, der Gräfin Marie, 
allein in seinem Salon war, fragte er mich plötzlich: „Welches Interesse 
treibt Sie zur Annäherung an Rußland? Glauben Sie mir, aus dem Osten 
kommt nichts Gutes!“ — „Lieber Graf, zwischen den Russen und uns be- 
steht eine alte Sympathie. Im übrigen ist es doch sehr natürlich, daß wir 
ein Gegengewicht gegen Ihren Dreibund suchen.“ Graf Münster bestritt 
diese Notwendigkeit, betonte den friedlichen Zweck des Dreibundes, und 
Freycinet antwortete: „Daß Sie uns nicht angreifen wollen, glaube ich. 
Aber mit Ihrem neuen Kaiser — wer kann wissen, was kommt? JZetzt hat 
er Bismarck entlassen, er kann seinem kriegerischen Impuls folgen!“ Da 
mischte sich lebhaft die Gräfin Marie ins Gespräch: „Geben Sie diesen 
Irrtum auf,“ rief sie, „ich kenne Wilhelm, ich habe oft mit ihm gespielt, 
als ich noch Kind war. Ich komme nie nach Berlin, ohne ihn aufzusuchen. 
Erhat sehr religiöse Empfindungen; niemals wird er die Initiative zum Kriege 
ergreifen!“ Der Botschafter bestätigte das Urteil seiner Tochter, und oft hat sie 
mir seitdem gesagt: „Hatte ich nicht recht? Sie sehen, Wilhelm ist friedliebend!“
	        
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