1870 Große Tagesordnung für das Ministerium. 199
ein solches konnte nur durch den Senat auf Anregung des
Kaisers beschlossen werden. Die Linke beantragte nun, daß
dieses Recht, eine Verfassung oder deren Artikel zu beschließen,
in Zukunft nicht mehr den vom Kaiser ernannten Senatoren,
sondern allein den vom souveränen Volke erwählten Abgeord-
neten zustehn sollte. Die Folgerung lag auf der Hand;
dann konnte eine radical gesinnte Mehrheit eines Tages in
ruhiger Gesetzlichkeit das Kaiserthum abschaffen.
Im Ministerium war man der Meinung, das Monopol
des Senats bei Verfassungsänderungen zu beseitigen, und
dafür dem Senat volle Theilnahme bei aller Gesetzgebung
einzuräumen. Indessen als man diese erlauchte Körperschaft
über solch eine Reform sondirte, wollten ihre Mitglieder
davon nichts wissen, und auch der Kaiser fand die Frage
noch nicht spruchreif.
So vergingen die Tage unter inhaltlosen Debatten.
Endlich am 22. Februar erhob sich im Namen der Linken
Jules Favre zu einer großen Interpellation: das Land,
entwickelte er, begehrt freie Presse, freies Vereinsrecht, Ver-
antwortlichkeit aller Staatsbeamten, die Abschaffung der
Militärlast und die Verbreitung höherer Bildung im Volke:
unter diesen Umständen, fuhr er fort, was ist die Politik des
neuen Cabinetts? welches ist sein Programm? Dieses Mal
hatte Graf Daru die Antwort übernommen und gab sie in
genauer und ausführlicher Weise, unter Bezugnahme auf die
beiden Programme der Centren, unter der Versicherung con-
stitutioneller Selbständigkeit und fester Einigkeit der Minister.
Er errang eine Tagesordnung, welche mit 232 gegen
18 Stimmen der Regierung das volle Vertrauen des Hauses
aussprach.