I. Geschichte der Verfassung des Deutschen Reiches. 15
Reichsverfassung der allgemeine Kriegszustand im gesamten
Reichsgebiet erklärt; damit traten die für den Belagerungs-
zustand gesetzlich vorgesehenen Wirkungen ein (s. S. 138); ins-
besondere ging die polizeiliche Verfügungsgewalt zum größeren
Teile auf die militärischen Befehlshaber über. Der sofort
einberufene Reichstag beschloß ferner eine Reihe gesetzlicher
Maßnahmen, besonders um Schädigungen in Verkehr und
Wirtschaft abzuwenden: dahin gehört vor allem auch die zweck-
mäßige Steigerung der Barmittel durch Errichtung von
Darlehnskassen (s. S. 34). Der Reichstag schaltete aber
zugleich auch für die Folge im Kriege seine Mitwirkung teil-
weise aus, indem der Bundesrat durch Gesetz vom 4. August
1914 (R.-G. Bl. S. 327) ermächtigt wurde, weitere wirt-
schaftlich notwendige Maßnahmen selbständig anzuordnen: der
Reichstag kann aber bei seinem nächsten Zusammentritt die
Wiederaufhebung beanspruchen.
In Verfolg hiervon sind seitdem Bekanntmachungen des
Bundesrates in wachsender Fülle ergangen; sie sind wesentlich
dadurch bedingt, daß wir, fast gänzlich von jeder überseeischen
Zufuhr abgeschnitten, beinahe ganz auf eigene Erzeugnisse und
die vorhandenen Warenbestände angewiesen sind. Es mußten
daher sowohl Nahrungs= und Genußmittel als auch die ver-
schiedensten Bedarfsgegenstände im größten Umfange An= und
Verkaufssperren, Beschlagnahmen, Höchstpreisen und Ein-
schränkungen im Verbrauche („Rationierung") unterworfen
werden. Für die Durchführung sind militärische und zivile
Sonderorganisationen im weitesten Umfange neu geschaffen
worden — insbesondere ist die Fürsorge für die Volks-
ernährung seit Frühjahr 1916 einem besonderen Kriegs-
ernährungsamte übertragen worden. Durch die damit ver-
bundene gewaltige allgemeine Steigerung der Löhne und
der Preise auf allen Gebieten ist unsere ganze Lebens-
führung und Wirtschaft im Kriege von Grund aus umgestaltet
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