60 II. Verfassung des Deutschen Reiches.
Im übrigen hat der Reichstag als Vertretung des Volkes
das Recht, Petitionen (Gesuche und Anträge) entgegenzu-
nehmen und dem Bundesrate bezw. Reichskanzler zu über-
weisen, sowie Interpellationen (d. h. Anfragen um Aus-
kunft) an die Regierung und Adressen (d. h. schriftliche An-
sprachen) an den Kaiser zu richten und auch in Beschlüssen
(Resolutionen) seiner Willensmeinung Ausdruck zu leihen.
Aus seiner Mitte wählt auch der Reichstag wie der Bundes-
rat Ausschüsse (Kommissionen) zur Bearbeitung sowohl ständig
wiederkehrender Geschäfte, wie für bestimmte Aufgaben; so
besteht z. B. ein „Ausschuß für den Reichshaushalt“ (kurz
„Hauptausschuß" genannt) und seit 1917 ein „Verfassungs-
ausschuß" sowie ein „Sonderausschuß beim Reichskanzler“.
Die Mitgliedschaft des Reichstages war bis 1906 ein
unentgeltlicher Ehrendienst, da im Reiche, abweichend von den
meisten deutschen Einzelstaaten, die Volksvertreter nach der
früheren Bestimmung des Artikels 32 „keine Besoldung oder
Entschädigung“ erhalten durften. Das Deutsche Reich war
darin dem Beispiele Englands gefolgt. Um der seit Jahren
ständig gewordenen Beschlußunfähigkeit des Reichstages (s. S. 58)
zu begegnen, sind die beiden Gesetze vom 21. Mai 1906 er-
gangen (RGBl. S. 467 u. 468), durch welche der angezogene
Artikel 32 geändert (s. Anhang) und den Mitgliedern des Reichs-
tages eine jährliche „Aufwandsentschädigung“ von 3000 M zu-
gesprochen worden ist; für jeden Tag des Fehlens bei einer
Vollsitzung werden jedoch 20 M in Abzug gebracht. Außer-
dem haben die Reichstagsmitglieder freie Fahrt auf den
deutschen Eisenbahnen für die Dauer der Tagung und je
8 Tage vor deren Beginn und nach deren Schluß.
Im übrigen genießen die Mitglieder des Reichstages, gleich
denen der beiden Kammern in Preußen, eine gewisse bevorzugte
Stellung. Solange der Reichstag einberufen ist, darf kein Mitglied
verhaftet werden, außer auf frischer Tat oder im Laufe des nächst-