Uebersicht der Ereignisse des Jahres 1861. 295
Partei, der auch die große Mehrheit der Deputirtenkammer angehörte,
begnügte sich den Anspruch auch auf diesen Theil Italiens nicht fallen zu
lassen, sondern im Gegentheil bei jeder Gelegenheit zu erneuern. Selbst
die Opposition mußte sich zu derselben Haltung bequemen. Alles, was
sie thun konnte, war, mit aller Macht auf die fortschreitende Wehrhaft-
machung der Nation zu dringen. Garibaldi, der, seit er Neapel dem
Könige übergeben hatte, als Einsiedler auf seiner Felseninsel Caprera
lebte, kam zu diesem Zwecke selbst nach Turin und erschien im Parla-
ment, um die Auflösung des von ihm gebildeten Freiwilligenheeres und
die Behandlung, die seinen ehemaligen Genossen, widerfahren war, aufs
Bitlerste zu tadeln und eine allgemeine Volksbewaffnung zu fordern.
Sein plötzliches Erscheinen führte zu den heftigsten Debatten, die indeß
durch die Gewandtheit Cavour's mit einer ausweichenden Tagesordnung
schlossen, worauf sich Garibaldi sofort wieder nach seinem Caprera zurück-
zog. Die Vermehrung der regulären Armee auf einen Fuß, wie sie der
jetzigen Ausdehnung des Staates entsprach, ging inzwischen nur langsam
vorwärts.
Sobald indeß Italien vorerst und thatsächlich darauf verzichtete,
Oesterreich anzugreifen, hatte es seinerseits für einmal wenigstens einen
Angriff Oesterreichs nicht zu besorgen. Ohne irgend eines der Rechte
aufzugeben, die ihr nach dem Züricher Vertrag zustanden, begnügte sich die
österreichische Regierung, Italien gegenüber auf einer Defensive zu be-
harren, die stark genug war, dasselbe für einen mit vereinzelter Kraft
unternommenen Angriff zu züchtigen und nöthigenfalls selbst einem ver-
einigten franco-italienischen Anprall die Spitze zu bieten. Die neue Bahn,
die Oesterreich durch das kaiserliche Patent vom 20. Oktober 1860 be-
treten hatte und die Schwierigkeiten, die sich der Durchführung der darin
enthaltenen Grundgedanken entgegenstellten, beschäftigten es zunächst
hinreichend im Innern. Durch jenes Patent sollte Oesterreich neuerdings
in die Reihe der constitutionellen Staaten eintreten. Die schwere Nieder-
lage in Italien hatte es aller Welt blos gelegt, wie das Kaiserreich durch
die zehnjährige absolutistische Wirthschaft politisch und sinanziell an den Rand
des Verderbens geführt worden war, und die Nothwendigkeit, sich um jeden
Preis mit Ungarn auszusöhnen, hatke den Entschluß in der Seele des Kaisers
gereist. Es hat allen Anschein, daß derselbe diesmal ein vollkommen auf-
richtiger war, und es ist nicht des Kaisers Schuld, wenn gerade dieses
Ziel nicht erreicht wurde und der Versuch, Ungarn zu versöhnen und zu
gewinnen, bis heute wenigstens als gescheitert betrachtet werden muß.