Uebersicht der Ertigunisse dts Sahres 1861. 337
aller polnischen revolutionären Lieder in den Kirchen, bei den Proressionen
und jeglichen Demonstrationen, das Vertheilen aller Art Broschüren, Pla-
cate und Bilder, sowie Geldsammlungen zu polnischen Zwecken. Wie auf
Zauberschlag verschwanden an diesem Tage alle Nationaltrachten, alle
weißen Trauerschnüre, alle Abzeichen, alle aufregenden Placate und Bilder
und waren dagegen die öffentlichen Plätze mit Zelten, Militär und Kanonen
besetzt. Aber schon seit einiger Zeit war auf den folgenden Tag, den
15. Oct., die Feier des Todestages Kosciusco's angesetzt und trotz des
Kriegszustandes fand die Feier Statt. Entgegen einem speziellen Verbote
waren die Läden geschlossen, die Stadt im Festgewande, die Kirchen voll
Menschen: wie üblich, wurden darin die verbotenen Nationallieder von
Tausenden gesungen. Da umgaben Infanterie, Tscherkessen und Kosacken
die Kirchen, besetzten die Thüren und verhafteten die austretenden Männer.
Die Kunde von dem, was draußen geschah, verbreitete sich schnell in den
Kirchen und nun wagten Viele nicht mehr, sie zu verlassen trotz der höfli-
chen Aufforderung des commandirenden Stabsoffiziers. Es wurde Abend
und Nacht. Tausende waren noch in den Kirchen wie belagert. Es wur-
den Lichter angezündet, Gebete verrichtet, Frauen beichteten, Viele wurden
vor Hunger ohnmächtig, da sie beinahe 24 Stunden nichts zu essen be-
kommen hatten; nur wenige Brode waren von einigen Geistlichen, die in
die Kirchen eintreten konnten, an die Hungrigen vertheilt worden. Gegen
Morgen drang das Militär in die Kathedrale und in die Bernhardiner
Kirche ein und räumte sie mit Gewalt, wie die Polen behaupten, unter
Verübung von allerlei Rohheiten, was indeß die Russen bestreiten. Die
Geistlichkeit erklärte diejenigen Kirchen, in welche das Militär eingedrun-
gen, für entweiht. Am 16. Oct. erschien eine Deputation des erzbischöfl.
Capitels nebst einigen gerade in Warschau anwesenden Bischöfen bei dem
Statthalter, Grafen Lambert, mit der Erklärung, daß sie in Anbetracht
der Gefahren, denen Kirchen und Kirchengänger ausgesetzt seien, beschlossen
hätten, die sämmtlichen Kirchen der Stabt auf so lange zu schließen, als
nicht genügende Garantieen für die Sicherheit der Gotteshäuser gegeben
würden. Graf Lambert betheuerte, daß das Eindringen des Militärs in
die Kirchen ohne sein Wissen geschehen sei und versprach die geforderten
Garantieen zu leisten. Inzwischen erschien eine Verordnung, daß an jeder
Kirche eine Polizeiwache aufgestellt werde, welche in dem Falle, daß die
verbotenen Lieder gesungen würden, sofort davon dem nächsten Militär-
commando Anzeige zu machen habe. Das Militär werde dann zwar die
Kirche nicht betreten, doch beim Ausgange aus derselben die Männer
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