Full text: Europäischer Geschichtskalender. Dritter Jahrgang. 1862. (3)

Deutschland. 117 
lung gegenüber wären ihre Beschlüsse sofort maßgebend, und den Landes- 
vertretungen gegenüber würden sie es allmälig werden. Die Eigenthüm- 
lichkeit des deutschen Nationallebens ist die reiche Entfaltung der Indivi- 
dualität der Stämme, das Widerstreben gegen uniformi- 
rende Centralisation, und diese Eigenthümlichkeit fordert bei jeder 
Reform des Bundes vorzugsweise Beachtung, da gerade sie zur Klippe 
werden kann, an welcher alle Reformbestrebungen scheitern. Gerade hier 
kann nun die vorgeschlagene Delegirtenversammlung wahrhaft organisch ein- 
greifen und segensvoll wirken. Von den Landesvertretungen gewählt und 
doch auf den Standpunkt des Gemeinwohls gestellt, in achtbarer Anzahl 
versammelt und in selbstgewählter Geschäftsform öffentlich vor den Augen 
der Nation berathend, darum frei von dem banalen Vorwurf dynastischer 
Sonderinteressen, wird sie die deutschen Stämme sich in würdiger Weise auf 
einem Felde praktischer Verständigung nahe bringen. Nicht in unfrucht- 
baren Verfassungsstreitigkeiten werden sich ideale Parteien bekämpfen, 
sondern in Behandlung realer Lebensverhältnisse werden sich thatsäch- 
liche Interessen berühren und ausgleichen. Dem Ueberwuchern des Cen- 
tralisationstriebs wird der Ursprung der Delegirtenversammlung, und 
den Auswüchsen des Sondergeistes ihre Vereinigung unter den richten- 
den Augen der Nation entgegenwirken, und so werden jene beiden Princi= 
pien in dasjenige Gleichgewicht gebracht werden, ohne welches zwar 
Kampf und Umsturz, nicht aber fortschreitende Reform gedacht werden kann. 
Ist aber nur erst dieser Geist lebendig geworden und in praktischer Thätig- 
keit erprobt, dann wird er auch im Stande sein, sich in den Verfassungs- 
fragen geltend zu machen, und es wird für die Reform des Bundes ein 
Boden gefunden sein, auf welchem sie mit Aussicht auf Erfolg in Behand- 
lung genommen werden kann. 
„Der Weg, welchen die Anträge vom 14. Aug. d. Js. eröffnen, ist al- 
lerdings nur für eine allmälig und besonnen fortschreitende Entwicklung 
eingerichtet, aber zugleich für eine nachhaltige und wirksame. Daß eine 
solche allein geeignet ist zu heilsamen Reformen, lehrt die Geschichte aller 
Nationen, und auf eine solche weist vorzugsweise der Genius der deutschen 
Nation hin. Ihm kann man vertrauen, daß er die Keime befruchten und 
entwickeln werde, welche in den Anträgen vom 14. August d. Js. ge- 
legt sind." 
Minoritätsvotum Preußen's: „Die k. Preußische Regierung 
hält an dem Standpunkte fest, welchen sie in Betreff der legislatorischen 
Initiative der Bundesversammlung eingenommen und wiederholt dargelegt 
hat, nämlich: daß der Bund sich erst mit Stimmeneinhelligkeit schlüssig ge- 
macht haben müsse, ehe er eine solche Initiative seinerseits ergreifen könne. 
Ein Mehrheitszwang zur Ergreifung dieser Initiative, gegen das Votum 
einer Minderheit, ist dem Charakter des Bundes, dem Geiste und Wortlaute 
der Bundesgesetze völlig zuwider. 
„ . . Der Bund würde nach Einfügung eines solchen Organismus ein 
anderer werden, als er bisher war. Er würde nicht nur seine Competenz 
auf ein neues, ja auf alle Gebiete der Gesetzgebung und Verwaltung aus- 
gedehnt haben, sondern es würde sich ihm auch in dem Delegirtenkörper, 
nach Ansicht der Mehrheit, eine Handhabe für die politische Entwickelung 
darbieten sollen. Es würde der Bundestag nebst den Delegirten den An- 
spruch machen, die ganze Nation zu umfassen und darzustellen, während 
und ungeachtet ein sehr großer, vielleicht der größere in der Minderheit 
repräsentirte Theil noch außerhalb derselben stände. Soll die fragliche An- 
ordnung überhaupt mehr als ein Schein sein, so ist, wie immer man sich 
die Modalitäten ihrer Ausführung denken mag, hier die Gefahr vorhanden, 
daß eine große Mehrheit an Volkszahl und staatlicher Kraft einer Combi- 
nation von Stimmen unterliegt, welche thatsächlich eine Minderheit an Zahl
	        
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