Full text: Europäischer Geschichtskalender. Dritter Jahrgang. 1862. (3)

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Deutschland. 
tretung durch Ausschüsse der Einzelkammern oder aus direkten Wahlen zu 
bilden sei, kann füglich vorerst als eine offene, außer Erörterung gelassen 
werden. — Eine solche Nationalvertretung kann allein den Hintergrund 
bilden, auf dem in ungetrennter Einheit die Achtung der Einzelinteressen 
mit der Rücksicht auf die Bedürfnisse des Ganzen verbunden wurzelt. Nur 
sie trägt einen Organismus, in welchem die im Leben ungetheilt neben 
einander liegenden Bedürfnisse stets gleichzeitig wirksam werden.“ 
„Beschränkt sich für die Großh. Regierung das dringendste Bedürfniß der 
Reform somit darauf, daß diejenigen Regierungsbefugnisse centralisirt wer- 
den, welche mit der Vertretung und Vertheidigung der Nation nach außen 
zu thun haben, so glauben wir doch nicht, daß damit der Kreis der Befug- 
nisse der Centralregierung absolut abgeschlossen sein sollte, wenn ein weiteres 
Bedürfniß sich zeigen würde. Allein unserer Ansicht nach würde es rathsam 
sein, die Zuweisung eines jeden weiteren Zweiges der bisher von den Ein- 
zelregierungen geübten Funktionen von der freien, auf die Ueberzeugung 
der Zweckmäßigkeit gegründeten Vereinbarung abhängig zu machen. Da- 
durch würde einerseits der Central-Institution jede wünschenswerthe Dehn- 
barkeit erhalten, andererseits die Einzelstaaten der Gefahr entzogen, wider 
ihren Willen und ihre Ueberzeugungen Funktionen der gemeinsamen Leitung 
überwiesen zu sehen, deren Erhaltung in unmittelbarer Verfügung ihnen 
werthvoll scheinen könnte.“ 
„Müssen wir zugleich zugeben, daß die Souverainetät der deut- 
schen Fürstenhoheit durch eine Umgestaltung der Bundesverfassung in 
diesem Sinne eine scheinbare, aber auch nur eine scheinbare Minde- 
rung erfahren würde, so wird die bisherige Stellung andererseits durch 
Theilnahme an der größeren Macht des Ganzen wesentlich gebessert. Ein- 
mal wird in keiner Weise principiell dem Wesen der Souverainetät eine 
Beschränkung auferlegt. Wir sehen vielmehr die im Obigen als nothwen- 
dig geforderten Beschränkungen nur als nothwendige weitere Ausführungen 
derjenigen Beschränkung an, welche die Bundesakte selbst der Souverainetät 
der deutschen Fürsten durch die Verpflichtung gegen Bund und Mitfürsten 
aufgelegt hat. Daß im Laufe der Zeiten diese Beschränkung eine formelle 
Umgestaltung erfahren muß, und die Art und Weise der Ausübung, gegen- 
über der unwandelbar gleichen Verpflichtung gegen das gemeinsame Vater- 
land, sich modificirt, berührt das Princip der Berechtigung selbst nicht.“ 
„Von einer Auflösung des Bundesvertrages ist bei einer solchen naturge- 
mäßen und bloß das Wohl des Ganzen in's Auge fassenden Reorganisation 
des Bundes in keiner Weise die Rede, und es würde der Charakter des 
Bundes als eines „unauflöslichen Vereins der deutschen Staaten“ dadurch 
keineswegs leiden, daß es einzelnen deutschen Bundesstaaten zur Zeit viel- 
leicht schwer fallen könnte, sich einer solchen einheitlichen Centralregierung 
unterzuordnen und ihr Verhältniß insofern ein privilegirtes genannt werden 
müßte, als denselben freigestellt werden müßte, statt in ein engeres Bundes- 
verhältniß mit den anderen deutschen Staaten einzutreten, in dem bestehen- 
den zu verharren. — Indem die Bundesverfassung demgemäß sich dem 
Gesetze der größtmöglichen politischen Leistung, wie ernste Pflicht sie zu er- 
streben gebietet, fügt, und sich dem jedesmaligen Bedürfnisse anpaßt, steht 
nichts im Wege, mit allen Staaten, welche der Ausbildung des deutschen 
Staatenlebens im eigenen Interesse nicht zu folgen vermögen, vorerst das 
Verhältniß wechselseitiger Rechte und Verpflichtungen aufrecht zu halten, 
welche den materiellen Inhalt des Bundesvertrages von 1815 ausmachen. — 
Dagegen, daß Deutschland aus einem Zustande verhältnißmäßiger politischer 
Schwäche zu einer Großmacht sich erhebe, und so die Mittel erlange, über- 
nommene Verbindlichkeiten in ausgedehntem Maaße zu erfüllen, kann billi- 
ger Maaßen von Seiten der Staaten, welche dieser kräftigeren Organisation 
sich nicht anzuschließen vermögen, keine Beschwerde erhoben werden. Kein
	        
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