Full text: Europäischer Geschichtskalender. Elfter Jahrgang. 1870. (11)

Preufien und der norddeutsche Pund. 113 
I. „Rheims, 13. Sept. 1870. Durch die irrthümlichen Auffassungen über 
unser Verhältniß zu Frankreich, welche uns auch von befreundeten Seiten zu- 
kommen, bin ich veranlaßt, mich in Folgendem über die von den verbündeten 
deutschen Regierungen getheilten Ansichten Sr. Maj. des Königs auszusprechen. 
Wir hatten in dem Plebiscit und den darauf folgenden scheinbar befriedigen- 
den Zuständen in Frankreich die Bürgschaft des Friedens und den Ausdruck 
einer friedlichen Stimmung der französischen Nation zu sehen geglaubt. Die 
Ereignisse haben uns eines andern belehrt, wenigstens haben sie gezeigt, wie 
leicht diese Stimmung bei der französischen Nation in ihr Gegentheil um- 
schlägt. Die der Einstimmigkeit nahe Mehrheit der Volksvertreter, des Se- 
nates und der Organe der öffentlichen Meinung in der Presse haben den Er- 
oberungskrieg gegen uns so laut und nachdrücklich gefordert, daß der Muth 
zum Widerspruch den isolirten Freunden des Friedens fehlte, und daß der 
Kaiser Napoleon Sr. Majestät keine Unwahrheit gesagt haben dürfte, wenn 
er noch heute behauptet, daß der Stand der öffentlichen Meinung ihn zum 
Kriege gezwungen habe. Angesichts dieser Thatsachen dürfen wir unsere Ga- 
rantien nicht in französischen Stimmungen suchen. Wir dürfen uns nicht dar- 
über täuschen, daß wir uns in Folge dieses Krieges auf einen baldigen neuen 
Angriff von Frankreich und nicht auf einen dauerhaften Frieden gefaßt machen 
müssen, und das ganz unabhängig von den Bedingungen, welche wir etwa an 
Frankreich stellen möchten. Es ist die Niederlage an sich, es ist unsere sieg- 
reiche Abwehr ihres frevelhaften Angriffs, welche die französische Nation uns 
nie verzeihen wird. Wenn wir jetzt, ohne alle Gebietsabtretung, ohne jede 
Contribution, ohne irgend welche Vortheile als den Nuhm unserer Waffen aus 
Frankreich abzögen, so würde doch derselbe Haß, dieselbe Nachsucht wegen der 
verletzten Eitelkeit und Herrschsucht in der französischen Nation zurückbleiben, 
und sie würde nur auf den Tag warten, wo sie hoffen dürfte, diese Gefühle 
mit Erfolg zur That zu machen. Es war nicht der Zweifel an der Gerech- 
tigkeit unserer Sache, und nicht Besorgniß, daß wir nicht stark genug sein 
möchten, welche uns im Jahre 1867 von dem uns schon damals nahe genug 
gelegten Kriege abhielt, sondern die Scheu, gerade durch unsere Siege jene 
Leidenschaften aufzuregen und eine Aera gegenseitiger Erbitterung und immer 
erneuter Kriege heraufzubeschwören, während wir hofften, durch längere Dauer 
und aufmerksame Pflege der friedlichen Beziehungen beider Nationen eine feste 
Grundlage für eine Aera des Friedens und der Wohlfahrt beider zu gewinnen. 
Jetzt, nachdem man uns zu dem Kriege, dem wir widerstrebten, gezwungen 
hat, müssen wir dahin streben, für unsere Vertheidigung gegen den nächsten 
Angriff der Franzosen bessere Bürgschaften als die ihres Wohlwollens zu ge- 
winnen. Die Garantien, welche man nach dem Jahre 1815 gegen dieselben 
französischen Gelüste und für den europäischen Frieden in der heiligen Allianz 
und andern im europeischen Interesse getroffenen Einrichtungen gesucht hat, 
haben im Laufe der Zeit ihre Wirksamkeit und Bedeutung verloren, so daß 
Deutschland allein sich schließlich Frankreichs hat erwehren müssen, nur auf 
seine eigene Kraft und seine eigenen Hilfsmittel angewiesen. Eine solche An- 
strengung, wie die heutige, darf der deutschen Nation nicht dauernd von neuem 
angesonnen werden; und wir sind daher gezwungen, materielle Bürgschaften 
für die Sicherheit Deutschlands gegen Frankreichs künftige Angriffe zu er- 
streben, Bürgschaften zugleich für den europäischen Frieden, der von Deutsch- 
land eine Störung nicht zu befürchten hat. Diese Bürgschaften haben wir 
nicht von einer vorübelgehenden Regierung Frankreichs, sondern von der fran- 
zösischen Nation zu fordern, welche gezeigt hat, daß sie jeder Herrschaft in den 
Krieg gegen uns zu folgen bereit ist, wie die Reihe der seit Jahrhunderten 
von Frankreich gegen Deutschland geführten Angriffskriege unwiderleglich dar- 
thut. Wir können deshalb unsere Forderungen für den Frieden lediglich darauf 
richten, für Frankreich den nächsten Angriff auf die deutsche und namentlich die 
bisher schutzlose süddeutsche Grenze dadurch zu erschweren, daß wir diese Grenze 
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