Full text: Europäischer Geschichtskalender. Elfter Jahrgang. 1870. (11)

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GOesterreich-Ungarn. 
Ein diese Maßregeln motivirender Vorlrag des Ministerpräsidenten an 
den Kaiser sagt über die bisherige „abwartende“ Haltung der Regierung: 
„Das Ministerium glaubte, ehe es sich zu entscheidenden Schritten entschloß, 
abwarken zu müssen, welche Unterstützung seine Absichten von den verschiedenen 
Parteien erfahren würden. Von jener Seite, welche vornehmlich die Gefahr 
einer Schädigung der Verfassung im Auge hatte, konnte es eine gewisse Bereit- 
willigkeit annehmen, die Verständigungsversuche im verfassungsmäßigen Wege 
zu erleichtern, während von der Gegenseite erwartet werden durfte, daß Frac- 
tionen, welche an die Revision der Verfassung zu ihren Gunsten ihr politisches 
Interesse anknüpften, geneigt sein würden, die ausgleichsfreundlichen Gesin- 
nungen des Ministeriums zu unterstützen und die Schwierigkeiten der Auf- 
gaben nach dieser Richtung nicht durch übertriebene Forderungen noch zu er- 
schweren. Die gemachten Erfahrungen indeß konnten der Regierung ein län- 
geres Zuwarten nicht räthlich erscheinen lassen.“ Ueber den Grund der Aus- 
nahme des böhmischen Landtags von der Auflösungsmaßregel wird gesagt: 
„Das Ministerium hat keineswegs die Ueberzeugung gewonnen, daß die Be- 
schickung des Reichsrathes von Seite des böhmischen Landtages, also die un- 
verrückbare Voraussetzung der verfassungsmäßigen Action im Falle der Ge- 
sammterneuerung dieses Landtages jetzt schon als zweifellos erscheinen kann. 
Die Schwierigkeiten einer entsprechenden Lösung der schwebenden Fragen könn- 
ten aber durch eine eventuelle, gegen die Verfassung gerichtete Haltung des 
böhmischen Landtages nur erhöht werden.“ Für den böhmischen Landtag 
sollen lediglich Ergänzungswahlen vorgenommen werden. 
22. Mai. (Oesterreich). Versammlung der hervorragendsten und ein- 
flußreichsten Führer der deutschen Partei aus allen Kronländern in 
Wien. Es wird ein gemeinsames Programm berathen und be- 
schlossen, das der Wahlagitation der gesammten deutschen Partei in 
ganz Oesterreich zur Grundlage dienen soll. 
Es sind über hundert Theilnehmer erschienen. Die erste der gefaßten Re- 
solutionen betrifft die Solidarität der Deutschen und wird einstimmig 
angenommen. Sie lautet: „Die Deutschen in Oesterreich stehen für ihren 
nationalen Verband und ihre nationale Stellung solidarisch ein. Sie müssen 
daher wie Ein Mann Alle für Einen und Einer für Alle zur kräftigen Ab- 
wehr zusammenwirken, sobald ein deutsches Interesse in irgend einem Theile 
des Reiches bedroht ist. Jede auftauchende Frage ist in erster Linie von 
dem Gesichtspunkte aus zu beurtheilen, ob sie den Rechten und Interessen der 
Deutschen entspricht, und jeder das ganze Reich berührende Vorschlag, wenn 
er auch an sich oder für einzelne Länder zulässig wäre, ist zu verwerfen, wenn 
er die nationale Existenz der Deutschen auch nur in Einem Lande bedroht.“ 
Ebenfalls einstimmige Annahme finden die folgenden Sätze für Aufrechthaltung 
der Verfassung: „Wir halten unerschütterlich an dem durch die Siaatsgrund- 
gesetze v. 21. Dez. 1807 legal geschaffenen Rechtsboden fest und werden eine Aen- 
derung dieser unserer Verfassung nur dann anerkennen, wenn sie im Geiste freiheit- 
licher Entwicklung und in verfassungsmäßigem Wege vollzogen wird, gleichwie wir 
uns nur durch verfassungsmäßige Gesetze und zu verfassungsmäßigen Leistungen 
verpflichtet erachten werden. Da wir nur in der Aufrechthaltung und freiheit- 
lichen Fortentwicklung der Verfassung unsere nationalen Interessen, mit denen 
die der Cultur und Freiheit in Oesterreich untrennbar verbunden sind, sowie 
die Machtstellung und den Bestand des Gesammtstaates gewahrt sehen, so 
werden wir einer föderalistischen Gestaltung des Reiches nimmermehr unsere 
Zustimmung geben, werden daher auch ein besonderes sog. Staatsrecht der 
böhmischen Krone oder einen von Böhmen, Mähren und Schlesien zu be- 
schickenden Generallandtag niemals anerkennen, und zwar um so weniger, als 
diese selbst historisch unbegründeten staatsrechtlichen Gebilde nur dazu dienen
	        
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