Full text: Europäischer Geschichtskalender. Elfter Jahrgang. 1870. (11)

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Trankreich. 
Negierung, sich in die Wahlen einzumischen, gleichsam in eine Curiositäten- 
sammlung verbannt, und ausdrücklich erklärt, daß das Cabinet bei allen künf- 
tigen partiellen Wahlen vollkommen gleichgiltig bleiben wolle, so kann ich 
unmöglich glauben, daß die Regierung so weit gehen könne, zumal wenn 
das Kaiserreich und der Souverän selbst bedroht werden sollten. In diesem 
Falle ist es die Regierung geradezu der Mehrheit des Landes und den In- 
stitutionen schuldig, in den Kampf mit einzutreten. Dies war auch der 
Standpunkt Casimir Périers, auf welchen der Justizminister sich gestern be- 
rufen wollte. Wir wollen weder Pression nach Bestechung, aber wir verlan- 
gen, daß die Regierung eine Fahne habe und sie der Mehrheit zeige; wahr- 
haft frei, aufrichtig und aufgeklärt sind die Wahlen nur dort, wo alle bethei- 
ligten Interessen das Wort erhalten. Thiers: Nach diesem System gäbe 
es noch eine einfachere Art. Die Bevölkerungen könnten nämlich zur Regie- 
rung sagen: vertretet uns selber, und ihr werdet noch leichter regieren! 
(Lebhafte Zustimmung links.) Granier de Cassagnac: Wenn man einen 
Satz auf die Spitze treibt, kehrt man ihn um. Aber man will eben alles 
jetzt verändern und umstürzen, was in den letzten achtzehn Jahren geschaffen 
worden ist. Ich wünsche Ihnen (zu den Ministern gewendet) von Herzen, daß 
Ihnen die Krönung des Gebäudes gelingen möge; aber Frankreich und die 
Geschichte wird diejenigen nicht vergessen, welche das Gebäude errichtet haben. 
(Beifall rechts.) Ollivier: Die theoretische Seite der Debatte scheine ihm 
erschöpft. Die Regierung sei sich ihrer Pflicht, die Grundeinrichtung und die 
Dynastie zu vertheidigen, wohl bewußt, aber auch entschlossen, hiebei nur die- 
jenigen Mittel anzuwenden, von deren Rechtmäßigkeit und von deren Wirk- 
samkeit sie überzeugt ist. Nun sei es aber ihre entschiedene Ueberzeugung, 
daß nach den jüngsten Wandlungen nur eine Gefahr diese Regierung bedro- 
hen könnte: das sei nämlich, wenn sie in dem Wahlsystem der Vergangenheit 
beharrte. Wir haben daher, fährt er fort, dieses System sogleich nach un- 
serm Amtsantritt aufgegeben. Wir haben stets geglaubt, daß die Regierung, 
um über ihre Gegner zu triumphiren, solcher Mittel nicht bedürfe. Casimir 
Périer ist allerdings für unsern Fall ein lehrreiches Beispiel; aber der Unter- 
schied ist nur, daß Périer zunächst auf Begründung der Ordnung bedacht sein 
mußte, während es unsere Aufgabe ist, die Freiheit einzuführen. Und wie 
Périer in seinem Werk die Freiheit schonen und achten mußte, so müssen wir 
in dem unfrigen die Ordnung schonen und achten. Hr. Granier de Cassagnac 
sagt uns, daß wir auf einem falschen Weg begriffen seien, der nur zu Unheil 
führen könne. Aber, m. HH., würdigen Sie auch unsere Lage, und bedenken 
Sie, daß wir in heilloser Weise die Regierung, in deren Namen wir hier er- 
scheinen, schwächen würden, wenn wir dem Lande das klägliche Schauspiel von 
Männern gäben, welche als Vertreter gewisser Idcen ans Ruder gelangt, nun 
diese Ideen verleugnen oder hintansetzen. Nein, nein, das werden wir nicht 
thun. (Anhaltender Beifall links und im linken Centrum. Sensation). 
Pinard bringt im Namen von 50 Mitgliedern der Rechten folgende Tages- 
ordnung ein: „In Erwägung, daß die weise und maßvolle Einmischung der 
Regierung in die Wahlen in gewissen Fällen eine politische Nothwendigkeit ist, 
geht die Kammer zur Tagesordnung über.“ Thiers bekämpft diese Tages- 
ordnung in einer kurzen, aber heftigen Apostrophe an den ehemaligen Minister 
des Innern. Ollivier erklärt im Namen des Cabinets, daß dasselbe nur 
die einfache Tagesordnung annehmen könne. (Neuer Beifall.) Hr. Picard 
zeigt an, daß die Linke nach den heutigen Auslassungen des Justizministers 
ihre motivirte Tagesordnung zurückziehe. (Sehr gut!) Lator-Du-Mon- 
lin: Wir mühssen die Solidarität mit der Linken zurückweisen. Jul. Fabre: 
Ich stimme für die Wahlfreiheit. Gambetta: Und nur für diese! Die 
von den HH. d'Albuféra und Genossen beantragte einfache Tagesordnung 
wird mit 185 gegen 56 Stimmen angenommen. (Dafür neben den beiden 
Centren, die ganze Linke, auch Gambetta, Jules Ferry, Girault u. s. w.,
	        
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