Full text: Europäischer Geschichtskalender. Elfter Jahrgang. 1870. (11)

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Frankreich. 
Plebiscit gber ist niemals ein ernstliches und aufrichtiges Mittel für die 
Auslbung der Volkssouveränetät gewesen. Welches Plebiscit wäre nicht 
votirt worden unter dem Druck von Umständen, wie die von 1852, nach einer 
gewaltigen Revolution, unter der Herrschaft des Schreckens!? Wenn man 
einer Nation die Wahl läßt zwischen dem Abgrund und der Bestätigung einer 
vollendeten Thatsache, kann sie da noch schwanken? Aber lassen wir die Ver- 
gangenheit. Ich erkläre, daß für die Zukunft das Plebiscit nicht ein Mittel 
ist, den Nationalwillen auszudrücken, sondern ihn zu confisciren. Mit dieser 
Waffe ausgerüstet, kann das Staatsoberhaupt eines Tags Frankreich unter 
die Herrschaft der Dictatur und des Despotismus bringen. (Eine Stimme: 
wenn die Nation darein willigt.) Die Frage ist eben, ob die Nation einen 
Willen ausdrückt in einem Verfahren, von welchem jede Berathung aus- 
geschlossen ist. Aus diesen Gründen muß ich das Senatusconsult bekämpfen, 
ohne für jetzt auf seine weiteren Anordnungen eingehen zu wollen. Auch ist 
es ein kindisches Werk, welches Sie unternehmen. Sie wollen dieses große 
Volk in Ihre kleinen Combinationen einzäunen; aber das Volk wird an sei- 
nem Tage diese Schranken übersteigen, wie es schon so viele überstiegen hat, 
bis es endlich zu der einzig normalen Regierung der Gegenwart, zu der 
demokratischen Form gelangt sein wird, in welcher allein es Ordnung, Frei- 
heit, Ruhe und Gedeihen finden kann. Ollivier: Wir bitten, da wir im 
Begriffe sind, unsere Vorlage vor dem Senat zu vertreten, die Kammer um 
ein entscheidendes Votum. Wenn wir Unrecht haben, so wird die Kammer es 
sagen, und andere werden uns ersetzen. Wir wollen uns von Ihnen nicht 
trennen und nur das ausführen, was Ihren wirklichen Wünschen entspricht; 
wir wollen Ihnen keine Ueberraschungen bereiten, sondern nur Ihr Mandat 
erfüllen. Wir mußten uns fragen, ob die von uns vorgeschlagenen Reformen 
in Uebereinstimmung mit den früheren Plebisciten sind oder nicht. Wir haben 
lange vor dieser Frage gezaudert, da es uns am Herzen liegt, den Geistern 
ein wenig Ruhe und Erholung zu bereiten. Aber das Plebiscit ist am Ende 
kein so schreckliches und beunruhigendes Ereigniß; es handelt sich um ein 
Votum, welches in sehr regelmäßiger Weise vor sich gehen wird. Wir über- 
zeugten uns immer mehr von der Nothwendigkeit des Plebiscits; ohne es 
hätte man dem Senatusconsult jede Bedeutung abgesprochen, das Land hätte 
uns stets der Eigenmächtigkeit geziehen. Darum kamen wir überein, wenn 
der Senat unsere Ansicht theilte, vom Volke eine Ratification des neuen 
Senatusconsults einzuholen. Die Nation ist auf diesen Act durch mehrjährige 
Discussionen auf der Tribüne und in der Presse vollkommen vorbereitet; wir 
wollen sie bitten, der nunmehr ausgebauten liberalen Verfassung dieselbe 
Weihe zu geben, welche sie der autoritären Verfassung gegeben hat. Wegen 
des Resultats dieser Prüfung sind wir außer Sorge; denn wenn die Nation, 
wie man sagt, sich zwischen die NReaction und Revolution gestellt sehen wird, 
so wird sie sich für das erklären, was wir ihr vorschlagen: für die Freiheit ! 
(Anhaltender Beifall.) Picard: Diese ganze Debatte sei nur eine Förm- 
lichkeit, nur eine Discussion in extremis, da ja in der Sache schon längst 
entschieden sei. Was es mit der Aufrichtigkeit und der Bedeutung des Ple- 
biscits auf sich habe, das mögen die Minister beantworten, die zur Zeit des 
Plebiscits von 1851 im Gefängniß waren. Die Fragestellung selbst werde 
vom Staatsoberhaupt nach seinem Gutdünken redigirt werden. Mit einem 
Gewaltstreiche werde diesem Hause die Hälfte der gesetzgebenden Autorität ge- 
nommen, und zwar, um in die Hände des Mannes zurückzukehren, welcher 
die dictatoriale Verfassung von 1852 geschaffen hat. Mit diesem Act werde 
die Aufhebung der offiziellen Candidaturen umgangen und paralysirt; denn 
fortan finde die executive Gewalt im Senat die von ihr ernannten und mit- 
hin abhängigen Gesetzgeber. Das Plebiscit habe nur einen Sinn, wenn ihm 
eine regelrechte Berathung vorausginge; andernfalls sei es ein wahrer Spott, 
und er begreife leicht, daß die Minister um das Ergebniß außer Sorge sind.
	        
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