Full text: Europäischer Geschichtskalender. Elfter Jahrgang. 1870. (11)

Dãs vaãlicanisihe Couil. 501 
Die Väter waren in Wirklichkeit die Gefangenen des Papstes: sie 
durften das Concil nicht verlassen ohne seine Erlaubniß, sich nicht zu ge— 
meinsamen Besprechungen versammeln, nichis drucken lassen ohne Censur, 
keinen Antrag stellen ohne seine Genehmigung. Der Papst machte die 
Decrete, definirte die Dogmen, das Concil hakte zuzustimmen. Nur zwei 
Befugnisse blieben den Bischöfen: in den General-Congregationen Reden zu 
halten, von denen bei der höchst ungünstigen Akustik der Concilsaula meist 
nur Tonwellen, aber nicht Worte und Sätze zu den Ohren der Hörer 
drangen, und sodann bei der Abstimmung placet oder non placet zu 
sagen: eine Gebundenheit, die übertrieben erscheinen konnte bei der unver- 
gleichlichen Mannszucht, mit der die Mehrheit der Infallibilisten im Feuer 
manövrirte. 
Im Februar 1870 ward das Schema eines allgemeinen Ka- 
techismus verhandelt, das sofert die letzten Ziele des ganzen Planes ent- 
hüllte. Sind die Lehren dieses Katechismus der Christenheit einmal in 
Fleisch und Blut übergegangen, dann gibt es keine Conflicte mehr zwischen 
Kirche und Staat, Concordate und Conventionen sind dann überflüssig 
und die Bullen der Päpste haben nicht mehr nöthig, zu weinen über den 
Abfall der Welt, zu fluchen dem bösen Feind, der sie der Kirche entfrem- 
det: dann gibt es keinen Staat mehr, er ist mit Allem, was in 
und mit ihm lebt, in der Kirche, im Papstthum aufgegangen. 
Die leitenden Sätze der neuen Glaubenslehre mögen für sich selber 
sprechen: Der Papst hat Herrschaft, Gerichtsbarkeit, Strafgewalt nicht bloß 
über die ganze Kirche, sondern auch über jeden Einzelnen, der getauft ist. 
So hoch die Seligkeit über Nutzen und Gütern des irdischen Lebens, so 
hoch steht die Kirche über dem Staat. Darum muß jeder Mensch den 
Nutzen der Kirche allezeit über das Wohl des Staates stellen. Die oberste 
Kirchengewalt entscheidet darüber, was die Fürsten und die Regierenden 
bezüglich der bürgerlichen Gesellschaft und der öffentlichen Angelegenheiten 
zu thun oder zu lassen haben. Der Papst entscheidet in diesen Dingen 
nicht bloß als Inhaber des obersten Lehramtes, er hat auch das Recht, 
durch Zwang und Strafe Jeden, er sei Monarch oder Fürst oder einfacher 
Bürger, zur Unterwerfung unter seinen Spruch anzuhalten. Wo immer 
ein Staatsgesetz im Widerspruch ist mit einem Kirchengesetz, da geht das 
letztere voran, und dem Bann vetfällt der, der behauptet, daß etwas nach 
bürgerlichem Gesetz erlaubt sei, was ein kirchliches Gesetz verbietet. Wer 
das nicht glaubt — anathema sit.
	        
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