550 Kebersicht der Ereignisse des Zahres 1870.
Khen bereitwillig unterzeichnet, von Frankreich aber zum Gegenstand von
allerlei formellen Bedenken gemacht wurde, ein Umstand, der das friedliebende
Cabinet in seiner Taubenunschuld nicht im Mindesten störte. Seitdem
hatte die Autorität Englands als Großmacht in europäischen Dingen ein
Ende, seine gesammte Diplomatie nur noch den Sinn einer gänzlich über-
flüssigen Spielerei. Ihre späteren Vermittlungsversuche, deren Richtung
einer „neutralen“ Macht ebenso unwürdig war, als der ausgebreitete
Waffenhandel, der unter den Augen der öffentlichen Gewalt die Krieg-
führung Gambetta's mit Schwung unterstützte, haben im deutschen Haupt-
quartier diejenige Abfertigung gefunden, die solcher Zudringlichkeit gebührte.
Ein nicht gewöhnliches Maß von Dreistigkeit und Heimtücke offenbarte
sich in dem Bestreben, die deutsche Großmacht, die von ihren natürlichen
Verbündeten allein gelassen, mit colossalen Opfern und Anstrengungen aus
eigner Kraft den ruchlosen Friedensstörer niedergeworfen, in einem faulen
Frieden wieder um die schwer errungenen Früchte von 23 Schlachten brin-
gen zu wollen. Wie eine verdiente Züchtigung solchen Gebahrens erschien
die grausame Verlegenheit, in die das Cabinet durch die Depesche des
Fürsten Gortschakoff vom 31. Oktober gestürzt ward. Die Pontus-
frage, die Rußland in einem vortrefflich gewählten Augenblick in die
Welt warf, stellte Englands Selbstachtung und Friedensliebe auf eine
sehr harte Probe. Mit einer geradezu verblüffenden Grobheit eröffnete
Rußland gleichzeitig in Konstantinopel, Wien und London, daß es sich
durch den Pariser Vertrag vom 23: März 1856 über die Neutralität des
schwarzen Meeres nicht länger gebunden erachten könne, d. h. es bean-
spruche das Recht, das ihm, dem Besiegten von 1856 ausdrücklich versagt
worden war, seine Kriegsflotte ins schwarze Meer einlaufen zu lassen und
an seinen Ufern militärisch-maritime Arsenale zu errichten. An allen drei
Höfen entstand ungeheure Aufregung, ganz besonders in Wien und London.
Sollte der fürchterliche Krieg gegen den Uebermuth des Kaisers Nikolaus
umsonst geführt worden sein? Sollte jede Macht das Recht haben, in
einem beliebigen Augenblick sich jeder Vertragspflicht zu entschlagen, sobald
sie ihr nicht mehr paßt? So wurde in Noten und Depeschen voll Ent-
rüstung gefragt. Aber man fragte sich auch, war jene Bestimmung über-
haupt haltbar auf die Dauer? Und wo wären die Mittel, einen neuen
orientalischen Krieg zu beginnen, jetzt da die Seele des damaligen, das
Kaiserreich, verendet hatte, Frankreich selber aus tausend Wunden blutend
an der Erde lag? Die Antworten der englischen und österreichischen