Full text: Europäischer Geschichtskalender. Elfter Jahrgang. 1870. (11)

Rußland. 563 
dem seit Jahrzehnten schwebenden Kampfe gegen das Deutschthum in 
den Ostseeprovinzen, das sich seit 1866 thatkräftiger seiner Existenz 
und seines überlieferten Rechtes wehrte gegen die Uebergriffe des russischen 
Despotismus, und dem in der Bildung eines mächtigen deutschen Staates 
eine bedeutende moralische Stütze erwuchs. Bereits am 15. Januar hatte 
der livländische Landtag eine feierliche petition of right an den Kaiser er- 
lassen und unter Hinweis auf die offenkundigen Rechtswidrigkeiten der 
Regierung um Wiederherstellung des auf der Capitulation des Herzog- 
thums mit dem Czar Peter 1I. 1710 beruhenden Verfassungsrechtes gebeten. 
Einen ähnlichen Schritt hatte am 11. März der esthländische Landtag ge- 
than, als er die „Freiheit des religiösen Bekenntnisses ohne allen Ge- 
wissenszwang, das Recht eigener Fortentwickelung auf den gegebenen Grund- 
lagen deutscher Nationalität, einheimischer Verwaltung und Rechts- 
pflege“ zurückverlangte. Die Folge war eine schroffe Ablehnung der Be- 
gehren durch den Kaiser und am 25. April der entschiedene Befehl, mit 
der bereits am 3. Januar 1850 angeordneten Einführung der russischen 
Geschäftsführung in allen Kronbehörden des baltischen Gebiets vollen und 
ganzen Ernst zu machen; ein Befehl, der wie alle früheren, weil unaus- 
führbar, thatsächlich in hundert Formen umgangen wird und so in Wirk- 
lichkeit nur sehr wenig ändert. 
Die Russifizirung der alten polnischen Lande machte neue Fortschritte. 
Der Widerstand der katholischen Geistlichkeit gegen das russische Nitual 
ward, nachdem der Dekan Pietrowitsch zu Wilna den keiserlichen Ukas 
vor versammelter Gemeinde öffentlich verbrannt, durch lebenslängliche Ver- 
bannung mehrerer Cleriker nach Sibirien gezüchtigt (April) und im Monat 
darauf mit der radicalen Umgestaltung der Grundbesitzverhältnisse in Polen 
durch tief eingreifende Bestimmungen über den Erwerb freien Eigenthums 
seitens der bisherigen Pächter von Vorwerken, Colonien, Mühlen und 
Schankgrundstücken fortgefahren. 
Noch im Herbst ward der auswärtigen Politik des Czarenreichs ein 
großer Erfolg zu Theil. Der Sturm, den die Depesche des Fürsten 
Gortschakoff vom 31. October über die Pontusfrage in Oesterreich und 
England hervorgerufen (s. oben), legte sich bald, als der Graf Bismarck 
eine nach London zu berufende Conferenz als Blitzableiter vorschlug und 
dafür die Billigung aller großen Mächte fand. Und noch ehe über den 
Verlauf der Conferenz, deren Berathungen durch das Fehlen eines Ver- 
treters von Frankreich beträchtliche Verschleppung erfuhren, Genaueres ver- 
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