Full text: Europäischer Geschichtskalender. Elfter Jahrgang. 1870. (11)

564 Keebersicht der Ereignisse des Lahres 1870. 
lautete, war für keinen Urtheilsfähigen zweifelhaft, daß Rußland in allen 
wesentlichen Stücken seinen Willen durchsetzen werde, um so mehr, als die 
nächst betheiligte Macht, die Türkei, die Kündigung der Neutralisation 
des schwarzen Meeres, die 1856 gerade in ihrem Interesse bestimmt wor- 
den war, mit vollständigstem Gleichmuth hingenommen hatte. 
Mit Ende des Jahres kam in Athen ein Prozeß zum Abschluß, 
der durch einen schauerlichen Vorfall im April veranlaßt war und auf die 
inneren Zustände des Königreichs Griechenland ein fürchterliches 
Schlaglicht warf. 
Der energischen Verwaltung Zaimis schrieb man zu, daß das Räuber— 
unwesen in Hellas seit Monaten fast gänzlich aufgehört. Es war üblich 
geworden, ohne militärische Bedeckung die Gebirge Attika's zu bereisen. 
Unter den vielen Fremden, die zur Osterzeit nach Athen strömen, um Aus- 
flüge in die historisch denkwürdigen Umgebungen zu machen, befand sich auch 
ein Lord Muncaster mit Gemahlin, der mit einigen in Athen wohnhaften 
Freunden, worunter ein italienischer Gesandtschaftssecretär, am 14. April 
eine Fahrt nach Marathon unternahm. Vier Wegestunden von Athen ent- 
fernt, wurde die Gesellschaft von Näubern überfallen, geplündert und ge- 
fangen ins Gebirge geschleppt. Die nachher wieder freigelassenen Damen 
brachten die Nachricht nach Athen, nach ihnen kam Lord Muncaster selbst 
dort an. Die Näuber hatten ihn gegen das Ehrenwort, sich wieder zu 
stellen, wenn er Nichts ausrichte, abgesandt, um auf folgende Bedingungen 
mit der Regierung zu unterhandeln: entweder 1 Mill. Drachmen Lösegeld, 
vollständige Amnestie und Herausgabe zweier vor einigen Wochen gefan- 
gener Räuber, oder Tod den Gefangenen. Die Aufregung über diese 
Dinge in Griechenland und England war furchtbar und die Verlegenheit 
der Regierung, die sofort vom italienischen und englischen Gesandten für 
Alles verantwortlich gemacht ward, unbeschreiblich. Von Unterhandlun- 
gen mit einer Bande von Straßenräubern, auf Grundlage ihrer Am- 
nestie, konnte natürlich keine Rede sein. Ein energischer Truppenangriff 
aber, der am 22. April stattfand, hatte die Folge, die vorauszusehen war. 
Ein Theil des Gesindels ward gefangen, ein anderer entkam, die Gefan- 
genen aber waren ermordet. Die Presse Englands gerieth außer sich. Die 
Times rief: „Diese Mordthat wird ein großes politisches Ereigniß werden. 
Die griechische Mißregierung hat den Becher bis zum Rande gefüllt. 
Europa's Geduld ist erschöpft. Vergeblich wäre es jetzt, von griechischer 
Wiedergeburt und griechischem Fortschritt zu reden; Niemand würde den
	        
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