Full text: Europäischer Geschichtskalender. Elfter Jahrgang. 1870. (11)

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Preußen und der norddeutsche Pund. 
warnen in dieser Beziehung mit allem Ernst vor einer großen Gefahr. Die 
Kirchenregimente haben endlich erkannt, daß das Recht der Gemeinden auf 
Mündigkeit und Selbständigkeit nicht länger verweigert werden kann, aber an- 
statt das Unrecht der bisherigen Bevormundung aufrichtig zu bekennen und 
offen und ehrlich in eine neue Bahn einzulenken, suchen sie durch eine schein- 
bare Nachgiebigkeit die Herrschaft der Consistorien und Pastoren zu befestigen. 
Wollen die Gemeinden nicht in eine noch größere Gebundenheit versinken, so 
mögen sie eilen, sich gegen dieses höchst gefährliche Trugbild des Gemeinde- 
princios zu verwahren. Sie müssen mit entschlossenem Ernste den verlorenen 
Grundsatz zurückerobern, daß nicht das geistliche Amt, sondern die Gemeinde 
in allen kirchlichen Angelegenheiten die letzte Instanz ist; sie müssen nach- 
drücklich fordern, daß die jungen Theologen auf den Gymnasien und Uni- 
versitäten nicht länger künstlich abgerichtet, sondern zu selbständigen Per- 
sönlichkeiten herangebildet werden; sie müssen das protestantische Grundrecht, 
die freie Pfarrwahl, wieder zurückverlangen. III. Wir protestiren gegen allen 
Staatszwang in religiösen Augelegenheiten und verlangen, daß die Selb- 
ständigkeit der Kirche endlich zur Wahrheit werde. Wir müssen den Schwer- 
punkt des Christenthums wieder dahin zurückverlegen, wohin Christus selbst 
ihn zuerst gelegt hat, nämlich in das Herz und das Gewissen der Völker. 
Freiheit ist das Element der christlichen Religion, und aller Zwang tödtet 
ihren Lebensnerv. Wir verlangen, daß der Staat bei Anstellung seiner 
Beamten nicht frage nach dem Bekenntniß, sondern nach der vorliegenden 
Leistungsfähigkeit; wir verlangen, daß der Staat die Rechtsform der 
Eheschließung so ordne, daß die kirchliche Einsegnung ein Act der 
religiösen Freiheit werde; wir verlangen, daß auch die Schule von dem 
Druck befreit werde, welchen der Staat im Dienste einer engherzigen 
Kirchlichkeit noch übt. Wenn somit nicht länger die Staatsgewalt für 
die kirchlichen Zwecke gemißbraucht wird, dann erst bekommt die Kirche 
Naum, ihre Selbständigkeit auszubauen, dann erst wird ihre Arbeit die 
volle Kraft gewinnen und ihre Erscheinung die echte Schönheit. Wir 
erklären feierlich, nicht die Zerstörung des Christenthums, sondern die Be- 
wahrung und Fortpflanzung desselben ist das uns treibende Motiv. Wir be- 
kennen uns zu der Hoffnung, daß der Protestantismus, seiner jetzigen Fessel 
entledigt, unser ganzes Volksleben auf's neue, und zwar in einer noch nie 
gesehenen Weise geistig befruchten und sittlich erheben wird. Wir behaup- 
ten, daß, wenn den kirchlichen Eiferern, welche uns unaufhörlich als Unchristen 
und Antichristen schmähen, auf ihrem verderblichen Wege nicht Einhalt gethan 
wird, das Christenthum entweder zu einer äußerlichen Gesetzesanstalt verdorben 
oder zu einer Secte verkrüppelt werde. Wenn das deutsche Volk sich ent- 
schließt, mit den Grundsätzen, die wir vertreten, thatsächlich Ernst zu machen, 
dann wird das Werk der Reformation, welches seit Jahrhunderten durch die 
Consistorien und die Theologen gehemmt ist, weitergeführt werden und seiner 
großartigen Anlage nach mit Gottes Hilfe sich zu einer deutschen Volkskirche 
gestalten. Und in dem Maße, als auf dieser Bahn vorgegangen wird, wer- 
den unsere katholischen Brüder den Muth gewinnen, endlich die Fessel der 
römischen Fremdherrschaft abzuwerfen, und so wird der confessionelle Riß, der, 
wie nichts Anderes, unser deutsches Volksleben zerklüftet, sich endlich schließen. 
Erst dann kann das deutsche Volk seiner hohen Bestimmung auf geradem 
Weg entgegengehen, — zum Heil der Menschheit. Denn die religiöse Frage, 
welche gegenwärtig die ganze civilisirte Welt in ihren Tiefen bewegt, kann 
ihre befriedigende Antwort nur in der Nation finden, in welcher die Innigkeit 
des religiösen Gefühls mit der Kraft des reinen Denkens sich zu verschmelzen 
trachtet. Im Bewußtsein, daß der Genius des deutschen Volkes an 
einem Scheideweg stehe, haben wir den Beschluß gefaßt, an dem nächsten 
Protestantentag, der im Herbste zu Darmstadt gehalten wird, zu behandeln: 
1) Die deutschen Aufgaben gegen über dem römischen Coneil
	        
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