Das deutsche Reich und seine einzelnen Glieder. (April 10—11.) 95
10. April. (Bayern.) II. Kammer: Antwort des Ministers
v. Lutz auf die Interpellation Schleich vom 3. d. Mts. Derselbe
spricht sich gegen ein Fallenlassen des Placets und der Art. 58 und
59 der zweiten Verfassungsbeilage aus: dieselben bildeten doch noch
manchen Schutz gegen die Uebergriffe der Hierarchie.
Bei Aufhebung derselben würden die bayerischen Altkatholiken in
ganz andere unerwünschte Stellung kommen; freilich wäre es gut, das ganze
Slaatskirchenrecht einer Revision zu unte sstellen. Eine dießsällige Vorlage
könnte aber nur bei einer die Annahme derselben sicheruden Zusammensetzung
der Kammer erfolgen. (Heiterkeit.)
Die Kammer genehmigt mit 119 gegen 29 Stimmen den An-
kauf der Ostbahnen durch den Staat.
11. April. (Preußen.) Abg.-Haus: Die Regierung bringt
einen Gesetzesentwurf ein, der in einem einzigen § die Aufhebung
der Art. 15, 16 und 18 der preußischen Verfassung ausspricht, mit
dem Zusatze, daß die Verhältnisse der verschiedenen Kirchen fortan
lediglich durch das Gesetz geregelt werden sollten.
Die betreffenden Artikel lauten: Arl. 15. Die evangelische und römisch-
katholische Kirche wie jede andere Religionsgenossenschaft ordnet und verwaltet
iinn. Angelegenheiten selbstständig, bleibt aber den Staatsgesetzen und der ge-
setzlich geordneten Aufsicht des Staates unterworfen. Mit der gleichen Maß-
gabe bleibt jede Religionsgenossenschaft im Bes und Genuß der für ihre
Cultus-, Unterrichls= und Wohlthätigkeilszwecke bestimmten Anstalten, Skif-
tungen und Fonds. Art. 16. Der Verkehr der Religionsgesellschaften mit
ihren Oberen ist ungehindert. Die Belanntmachung kirchlicher Anordnungen
ist nur denjenigen Beschränkungen unterworfen, welchen alle übrigen Ver-
öffentlichungen unlerliegen. Art. 18 erklärt das Ernennungs-, Vorschlags-,
Wahl= und Bestätigungsrecht des Staates bei Aefehzung kirchlicher Stellen,
wo es nicht auf dem Patronale beruht, für ausgehoben, unterwirft aber die
Vesehung lirchlicher Stellen den Modalitäten der Geseße.
Nach diesem Entwurfe hört die römisch-katholische wie jede andere
Religions-Genossenschaft auf, ihre Angelegenheiten selbstständig zu ordnen
und zu verwalten; der Verkehr mit den lachlichen Obern ist untersagt und
der Staat vindicirt sich das Ernennungs= und Wahlrecht bei Besetzung kirch-
licher Stellen. Allerdings fällt diese Maßregel auch auf die evangelische
Kirche zurück, aber die Motive des Entwurfes unterlassen es nicht, zu ver-
sichern, daß gegen andere Religionskörper keinerlei Nbwchemaßnahnen nöthig
oder im Wert e seien.
ie der Vorlage beigegebenen Motive lauten: „Seitdem in nenerer
Zeit begonnen- werden mußte, durch die Gesetzgebung des Staates die noth=
wendigen Gränzen zwischen diesem und der Kirche zu regeln, um dadurch
ein festes, für jedes der beiden Gebiete geregeltes Verhältniß herzustellen, hat
die Staatsregierung stets und immer von Neuem die Erfahrung gemacht,
daß ihren Schritten der Einwand entgegengesetzt wurde, dieselben verstießen
gegen diejenigen Bestimmungen der Verfassungs-Urkunde, welche den Reli-
gionsgesellschaften die selbstständige Verwaltung ihrer Angelegenheiten zuge-
wiesen haben. Als sich im Jahre 1873 die Gesetzgebung zum erstenmale dem
bezeichneten Gebiete zuwendele, war dies erklärlich. Denn damals bestand
der Art. XIV der Verfassungs-Urkunde noch in seiner ursprünglichen Fassung,