148 Das deutsche Reich und seine elnselnen Slieder. (Juni 22—25.)
Behufs einer ultramontanen Demonstration werden die Häuser und
der Kirchthurm beflaggt. Die Flaggen werden polizeilich entfernl. Diejenige
auf dem Kirchthurm strizunehmen weigert sich jedoch der Pfarrer trotz vier-
maliger Aufforderung. Nicht genug hiermit, wird Abends das Hauptportal
der Kirche, sowie das in der Nähe desselben stehende Christusbild glänzend
illuminirt. Gegen halb 10 Uhr Abends sammelt * hier eine große
menge an, welche anfängt, beistiche Lieder zu singen, Hochs auf den „heil.
Vater“ u. s. w. auszubringen. Bei immer wachsendem Tumult erscheint
gegen halb 11 Uhr der Bürgermeister Sprickmann und fordert unter Ver-
lesung des bezüglichen Paragraphen des Strasgesetzbuches die Menge auf,
auseinander zu gehen. Nun beginnt aber eine gewaltthätige Scene. Der
Bürgermeister sowie die Polizeidiener werden zu Boden geworfen und unter
ortwährendem Gebrüll der Menge mißhandelt; ersterer erhält hierbei fünf
Messerstiche in den Rücken und wird von mehreren Postbeamten, die sich mit
Mühe Bahn zu demselben brechen, schwer verwundet in das Hotel Schulz
getragen, woelches nun fortwährend mit Pflastersteinen bombardirt wird unter
dem üblichen Abbrüllen geistlicher Lieder, Hochs auf den Papst und Dro-
hungen und Insulten gegen Andersgläubige. So dauert der Scandal bis
12¼ Uhr Nachts und wöre auch dann noch nicht beendet gewesen, wenn
nicht auf energische Aufforderung des dortigen isrichters die Geistlichen
endlich auf dem Marktplatz erschienen wären und die Menge zum Ausein-
andergehen bewogen hätten.
22. Juni. (Deutsches Reich.) Da auch der zweite vom Reichs-
eisenbahnamt ausgearbeitete Entwurf eines Reichseisenbahngesetzes nicht
nur von Seite eines großen Theils der öffentlichen Meinung, son-
dern auch von Seite der Regierungen mehrerer größerer Bundes-
staaten auf lebhaften Widerspruch stößt, so sieht sich das Bundes-
kanzleramt genöthigt, die Ausarbeitung eines neuen Entwurfs auf
veränderter Grundlage anzuordnen.
24. Juni. (Deutsches Reich.) Das Berliner Kammergericht
verurtheilt in II. Instanz den ehem. deutschen Botschafter in Paris,
Grafen H. v. Arnim, wegen vorsäßlicher Beiseiteschaffung amtlich
anvertrauter Urkunden zu neunmonatlichem Gefängniß, wovon ein
Monat durch die Untersuchungshaft als verbüßt erachtet wird. Un-
terschlagung und Vergehen gegen die öffentliche Ordnung erklärt das
Urtheil als nicht vorliegend.
25. Juni — 6. Juli. (Preußen.) Der Cultusminister Falk
macht eine Rundreise in der Rheinprovinz und wird dabei in den
Städten, wie Köln, Bonn, Düsseldorf, Aachen 2c., überall mit leb-
haften und zum Theil geradezu großartigen Demonstrationen ge-
feiert, so daß seine Reise einem wahren Triumphzuge gleicht.
Diese Erscheinung gerade in derjenigen Provinz, die als die Domäne
des finstersten Ultramontanismus gilt, kann zwar nicht darüber täuschen,
daß die Majorität der Bevölkerung der Provinz unleugbar nach wie vor
ultramontan gefinnt ist, aber fie zeigt ehenso unläugbar, daß die Mehrheit
der gebildeten Bevölkerung in den Städten, die berufenen Vertreter derselben
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