Full text: Europäischer Geschichtskalender. Sechzehnter Jahrgang. 1875. (16)

Das deutsche Reich und seine einzelnen Glieder. (Okt. 31. — Nov. I.) 187 
lichen Amtes gedrängt, einige der Hauptanliegen der katholischen Kirche vor- 
getragen haben. Möge das gütige und gerechte Herz des Landesvaters in 
unserer Stimme den Nothruf des ganzen katholischen Volkes erkennen.“ 
Der König überweist die Eingabe zu gutfindender Beantwor- 
tung einfach an das Cultus= und Unterrichtsministerium. Inzwischen 
sind dem Könige aus Bayern und Deutschland mehr als 1500 Glück- 
wunschtelegramme für seinen Erlaß vom 19 d. M., durch welchen 
er den Ansturm der Zweistimmenmehrheit der II. Kammer abge- 
wiesen hat, zugegangen. 
Anf. November. Der ehemalige Botschafter in Paris, Graf 
Harry v. Arnim, veröffentlicht von der Schweiz aus unter dem Titel 
„Dro nihilo. Erstes Heft“ eine neue Streitschrift gegen den Reichs- 
kanzler, in der er in seiner Weise die Vorgeschichte seines Prozesses 
darlegt und einen Theil derjenigen Aktenstücke, die als politisch für 
das Reich gefährlich vom Gerichte nur in geheimer Sitzung behan- 
delt worden waren, nunmehr veröffentlicht. Die Schrift wird in 
Berlin sofort mit Beschlag belegt und gegen den Verfasser Anklage 
beim Staatsgerichtshof eingeleitet, dessen Anklagesenat denn auch 
die Untersuchung gegen den Grafen wegen Landesverraths beschließt. 
— November. Die öffentliche Meinung beschäftigt sich sehr 
lebhaft mit der Frage einer Erwerbung der Eisenbahnen für das 
Reich, da es so ziemlich außer Frage zu stehen scheint, daß der 
Reichskanzler den Plan sehr ernsthaft in's Auge gefaßt hat. 
Die Idee hat sich allerdings fast von selbst aufgedrängt, da es bis 
jetzt nicht gelungen ist, auch nur den Entwurf eines den verschiedenen politi- 
schen und wirlhschaftlichen Interessen entsprechenden Eisenbahngesetzes zu Stande 
zu bringen und die Hoffnung, daß es doch noch gelingen werde, vielfach 
geradezu aufgegeben zu sein scheint. Allein auch dem Plane des Reichskanz- 
lers stehen schlere bolitische und wirkhschaftliche Bedenken im Wege und vor- 
erst ist die öffentliche Meinung demfelben in entschieden weit überwiegendem 
Maße abgeneigt, namentlich im Süden, theilweise auch im Norden. Bereits 
ist es außer Zweifel, daß die Regierungen von Bayern, Würtlemberg, Sachsen 
und selbst Baden nicht daran denken, ihre Eisenbahnen dem Reich abzutreten 
und ob Preußen dazu unter Umständen bereit wäre, bleibt vorerst noch zwei- 
felhaft. Die Stimmen dafür sind vorerst meist officiöfe, doch allerdings nicht 
ausschlieslich So meint z. B. eine Denkschrift des bleibenden Ausschusses 
des deutschen Handelstages über das Eisenbahnwesen im Allgemeinen: „Das 
Interesse des Verkehrs sordere. daß ein Eisenbahngeseh zu Stande komme, 
und der Handelstand möge sich dafür aussprechen, daß das Eisenbahnwesen 
geseplich geregelt und dabei der Charakter der Eisenbahnen als öffentlicher, 
der Hiaatzaassicht unterworfener Institute hervorgehoben werde. Das Haupt- 
bedenken gegen das Gesetz liege in der Befürchtung, es könnte die Rentabili- 
tät der Elodahnen geschädigt werden. Nur um diesem Bedenken nmvi 
zutreten, nicht aus Vorliebe für das Instikut der Staatsbahnen im Allge- 
meinen, müsse dem Gedanken eines Erwerbes der Eisenbahnen durch das Reich 
 
	        
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