Full text: Europäischer Geschichtskalender. Sechzehnter Jahrgang. 1875. (16)

492 Die otlomannische Pforle. (Okt. 4- 7.) 
Minister bis zu jenem Augeublick nichts, und es ist klar, daß Milan seine 
Minister um jeden Preis unmöglich machen und sie in der Skupschtina selbst 
zum Falle bringen wollte. Als der Fürst daher jene Worte ausgesprochen, 
erheben sich sämmtliche Minister und verlassen, ohne auch nur ein Wort zum 
Abschied gesprochen zu haben, den Saal. Kaum ist dies geschehen, als auch 
schon Milan sich zum zweiten Male erhebt und, zu der Skupschtina gewendet, 
spricht: „Es ist dies jedenfalls ein unerhörter Fall, daß der Regent ohne 
seine Regierung vor die Skupschtina trilt; doch läßt sich derselbe mit Rücksicht 
auf die heutigen außerordentlichen Verhällnisse erklären und rechtfertigen. 
ch finde mich bewogen, an euch folgende Fragen zu richten: „Habt ihr Ver- 
trauen zu mir?“ Die Skupschtina, die sich von ihrem Erstaunen kaum noch 
erholt hat, bejaht die unter so eigenartigen Verhältnissen gestellte Frage. 
Hierauf fragt der Fürst: „Seid ihr für den Krieg?" Die Abgeordneten ant- 
worten mit einem lauten einstimmigen: „Ja, wir sind es!“ Der Fürst erklärt 
nun, daß er nicht für den Krieg sei, indem er gleichzeitig die Gründe aus- 
einanderlegt, weßhalb er keinen Krieg wolle. „Das hat uns schon Ristitsch 
in Kragujevatz gesagt!" schallt es dem Fürsten entgegen, als er seine Rede 
beendet hat und den Sihungssaal verläßt. Die Abgeordneten verlassen gleich- 
falls den Saal. Die größte Aufregung herrscht unter denselben, sowie auch 
unter dem vor dem Skupschtina-Gebände angesammelten Volke. Kein „Zivio“ 
erhebt sich, als Milan, eine Cigarre rauchend, mit Oberst Protitsch den 
Wagen besieigt. 
4. Oktober. (Herzegowina.) Eine Angahl christlicher Rajahs 
von Popovopolje, welche in ihr Besitzthum zurückkehren und sich den 
Türken neuerdings unterwerfen, werden von diesen als Empörer hin- 
gerichtet. Der Aufstand erhält dadurch neue Nahrung. 
6. Oktober. Die schon seit einiger Zeit erwartete finanzielle 
Katastrophe tritt endlich ein: die Pforte sieht sich genöthigt, für die 
Zinsen ihrer Staatsschuld eine Reduction von 50 Proc. vom 1. Ja- 
nuar k. J. an zu verordnen und sich damit offen bankerott zu er- 
klären. 
  
Zur Milderung der Maßregel wird freilich gesagt, daß nach fünf 
Jahren die vollen Zinsen wieder gezahlt werden sollen und daß die Gläu- 
biger der Türkei für die Hälfte der Zinsen, die sie jetzt verlieren, Obliga- 
tionen erhalten, welche nach fünf Jahren wieder eingelöst werden sollen; 
aber ganz abgesehen von der Zukunft, die auch der Sultan nicht in der 
Hand hat, ist die Maßregel, welche die türkische Regierung beschlossen hat, 
doch nichts anderes als der Staatsbankerott. Die nächste Folge davon ist. 
daß von diesem Augenblick an ein Anleihen der Pforte in Europa absolut 
unmöglich geworden ist, und doch ist es mehr als zweifelhaft, daß sie ohne 
solche auch nur die Hälfte der Zinsen ihrer Staatsschuld aufzubringen im 
Stande sein werde. 
7. Oktober. Der türkische Minister des Auswärtigen notifi- 
eirt den europäischen Cabineten die von der türkischen Regierung 
beschlossene Zinsenreduction: 
... Die beträchtliche, zur Bezahlung des Coupons unserer inneren 
und auswärtigen Schuld nöthige Summe hat das G# eichgewicht des Bud- 
gets gestört und die gegen alle Vorausficht eingetretene Anhäufung der Zinsen
	        
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