Full text: Europäischer Geschichtskalender. Sechzehnter Jahrgang. 1875. (16)

Uebersichl der politischen Enlwickelung des Jahres 1875. 567 
den Gemeinderäthen und gegen den ausgesprochenen Willen derselben, 
endlich für die Wahlen zur Deputirtenkammer nach Arrondissements 
und nicht durch das sog. Listenserntinium für ganze Departements 
fand sich die alte Majorität auf seinen Antrieb wieder zusammen. 
Die republikanischen Parteien ließen auch das alles ruhig über sich 
ergehen, um nur baldigst zur Auflösung der jetzigen Nationalver- 
sammlung zu gelangen und zu den Neuwahlen, in denen ja doch 
die Entscheidung für die Zukunft lag. Die alte Majorität ihrer- 
seits, obgleich sie unter Leitung der Regierung gelegentlich immer 
wieder zusammenfloß, war politisch innerlich doch gebrochen; sie 
schlug denn auch wesentlich in eine vorwiegend clericale um und 
beschwor dadurch für Frankreich und über dieses hinaus alsbald 
eine Gefahr herauf, die viel bedeutsamer war, als kleine reactionäre 
Maßregeln, die gegen den nunmehr gesetzlich entfesselten Strom der 
öffentlichen Meinung auf die Dauer doch nicht vorhalten konnten 
und auch nicht vorgehalten haben. 
Nach dem entsetzlichen Zusammenbruch des französischen Ehr--Tie sog. 
geizes und der französischen Eitelkeit in den Jahren 1870 und 1871 Fralbet 
hatten die Franzosen allerdinge alle Ursache, ernstlich in sich zu gehen, W*“'2 
sich vor Gott zu demüthigen und in einem erneuerten Gottesbewußt= unter 
sein Trost und Hülfe zu suchen. Allein alsbald ersah auch die ka- 1. 
tholische Hierarchie, daß nunmehr ihr Weizen blühe und ihr fällt 
es zur Last, daß das wirklich religiöse Gefühl schmachvoll sofort in 
sein Gegentheil verkehrt und der Teufel der Eitelkeit nur in neuer 
Form wieder erstand und immer weitere Kreise in seine Bande schlug. 
Wir wollen gerne glauben, daß Viele wirklich in sich gingen und 
gerne hoffen, daß es recht Viele waren; der Hierarchie aber fallen die 
gahlreichen angeblichen Wundererscheinungen in Lourdes, in Paray- 
le-Monial, in Elsaß und an vielen anderen Orten, ein widerliches 
Gemisch von Einfalt und Betrug, ihr die glänzenden, aber innerlich 
hohlen Prozessionen, ihr die zahlreichen Wallfahrten, aus denen als- 
bald ein Modeartikel ächt französischer Fabrication gemacht wurde, 
zur Last, welche Frankreich in den Augen nicht bloß aller vernünftig 
Denkenden, sondern auch aller wahrhaft religiös Fühlenden nur zur 
Schmach gereichen konnten. Die Religion war zum bloßen Werk- 
zeuge herabgesunken, das Ziel war, wie von jeher, theils überwie- 
gend theils ausschließlich die Herrschaft des Clerus und seiner Hie- 
rarchie, zu dessen Erreichung diese sich auf's engste an den römischen 
Papst anschloß, was am deutlichsten an dem stehenden Refrain all
	        
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