Full text: Europäischer Geschichtskalender. Sechzehnter Jahrgang. 1875. (16)

Belgien. 
580 Uebersicht der pelitischen Enkwichelung des Jahres 1875. 
bedürfen, um mit ihr vielleicht einen Erfolg zu erzielen, der einem 
kleinen stehenden Heere jedenfalls ganz unmöglich wäre. Bis auf 
einen gewissen Grad ist daher die Schweiz mit ihrem. Milizsysteme 
auch für eine Reihe anderer Staaten geradezu mustergültig geworden. 
Denn in demselben Falle wie die Schweiz befinden sich auch 
Belgien und Holland, Dänemark, Schweden und Norwegen, Portugal 
und Griechenland; in gewissem Sinne dürfte man selbst Spanien 
dazu zählen. Wie die Dinge gegenwärtig liegen, kann keiner dieser 
Staaten mehr daran denken, eine selbständige kriegerische Rolle in 
irgend welcher europäischen Verwickelung zu spielen. Sie müssen die 
Entscheidung nothwendig gänzlich den Großmächten überlassen und 
sich darauf beschränken, ihre Selbständigkeit gegen wen immer zu 
wahren. Die meisten derselben besitzen zur Zeit zwar noch stehende 
Heere, sind aber auch zu der Einsicht gelangt, daß dieselben in ihrem 
gegenwärtigen Bestande und ihrer gegenwärtigen Organisation den 
so gewaltig gesteigerten Anforderungen der modernen Kriegswissen- 
schaft nicht mehr entsprechen. Die Frage einer Reorganisation des 
Militärwesens ist daher in Belgien und Holland, in Dänemark, 
Schweden und Norwegen schon seit Jahren auf der Tagesordnung, 
ohne daß sie bis jetzt hätte erledigt werden können, aus dem ein- 
fachen Grunde, weil die Regierungen überall noch an dem bisherigen 
Princip festhalten, die Volksvertretungen aber überall keine Lust 
haben, gewaltige Geldsummen zu bewilligen, ohne sicher zu sein, den 
beabsichtigten Zweck damit auch nur annähernd erreichen zu können. 
Früher oder später werden sicherlich alle diese Staaten genöthigt 
sein, nicht in der Form, aber doch im Princip zu dem Milizsystem, 
wie es in der Schweiz besteht, überzugehen und auf stehende Heere 
wenigstens von irgendeinem erheblichen Belange gänzlich zu verzichten. 
In Belgien wird sich die Frage aus derjenigen über die Ein- 
führung des Grundsatzes der allgemeinen Wehrpflicht entwickeln. 
Für diese haben sich in den letzten Jahren wiederholt der König, 
die einsichtigsten Militärs ohne Ausnahme und die liberale Partei 
ausgesprochen. Aber die clericale Partei ihrerseits will davon nichts 
wissen und diese Partei hielt sich während des ganzen Jahres 1875 
am Ruder. Belgien war denn auch der einzige Staat Europa's, der 
sich im ultramontanen Fahrwasser bewegte, doch nicht ohne Mühe 
sowohl gegenüber dem Auslande als gegenüber der liberalen Oppo- 
sition in beiden Kammern. Den Reclamationen Deutschlands mußte 
das Cabinet Malou nach längerem Sperren schließlich nachgeben
	        
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