Full text: Europäischer Geschichtskalender. Sechzehnter Jahrgang. 1875. (16)

Uebersicht der polilischen Entwicelung des Jahres 1875. 583 
obgleich er auch damit nur sehr wenig Hoffnung hegen konnte, beim 
Reichstage durchzudringen. Endlich hieß es, daß der Reichskanzler 
mit der Majorität des Reichstages, auf die er sich bisher gestützt 
hatte, sehr unzufrieden sei, daß er daher ernsthaft mit dem Plane 
umgehe, die nationalliberale Partei, den Kern jener Mojorität, 
zu sprengen, um sich aus ihren Trümmern in Verbindung mit 
den conservativen Fractionen und anderen erst heranzuziehenden 
Elementen eine neue gefügigere Majorität zu schaffen. Zu diesem 
Zwecke, so hieß es, lasse er nicht nur die neue Partei der sog. 
Agrarier gewähren und sehe ihren Bestrebungen zum mindesten nicht 
ungerne zu, sondern begünstige auch und zwar durch den verhaßten 
ehemaligen Geh. Ralh Wagener die Partei der Schutzzöllner, welche 
seit einigen Monaten eine lebhafte Agilation in's Werk gesetzt hatte, 
um zunächst die schon beschlossene Herabsetzung der Eisenzölle wieder 
rückgängig zu machen und überhaupt das System angeblich gemäßig- 
Schutzzölle wieder an die Stelle des seit einigen Jahren zur Herrschaft 
gelangten Freihandelsprincips zu setzen. Alle diese Thatsachen und 
Gerüchte erzeugten eine gewisse Benuruhigung der öffentlichen Mei- 
nung und nicht nur im Reichstage, sondern in den weitesten Kreisen 
eine in der That sehr unbehagliche Stimmung. Der ganze Plan 
war dennoch ziemlich unwahrscheinlich. Die nationalliberale Partei 
zu sprengen mochte so leicht doch nicht sein und noch schwerer, eine 
neue conservative oder auch nur conservativere Majorität im Reichs- 
tag jetzt oder später bei den Neuwahlen zusammenzubringen, wofern 
der Reichskanzler nicht die ultramontane Partei dazu heranziehen, 
resp. sich ihr in die Arme werfen wollte, wovon doch ganz und gar 
keine Rede sein konnte. Auch lautete das Gerücht von seiner er- 
neuerten Verbindung mit Wagener und den Schutzzöllnern nicht sehr 
glaublich, da sein nächster College im preußischen Staatsministerium 
und der Vicepräsident desselben, der Finanzminister Camphausen, 
entschiedener Freihändler war und ebenso seine rechte Hand in der 
Reichsregierung, der Präsident des Reichskanzleramtes, Delbrück. 
Freilich hieß es sofort, daß beider Stellung gefährdet sei und ebenso 
war es immerhin auffallend, daß die offiziösen oder doch für offiziös 
gehaltenen Berliner Blätter den Gerüchten und der allgemeinen Be- 
unruhigung nicht entgegentraten, sondern vielmehr gerade sie es 
waren, welche dieselben veranlaßt hatten und nährten, der Kanzler 
selbst aber vollkommenes Stillschweigen beobachtete. Dennoch scheint 
die Beunruhigung zureichender Gründe wirklich ermangelt zu haben.
	        
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