Full text: Europäischer Geschichtskalender. Sechzehnter Jahrgang. 1875. (16)

Uebersicht der politischen Enkwichelung des Jahres 1875. 589 
Hand zu lassen, die Pacification ihrer insurgirten Provinzen selbst 
zu versuchen. Damit ist in der ganzen Angelegenheit ein Stillstand 
und zwar allem Anschein nach ein längerer Stillstand eingetreten. 
Es ist sogar möglich, daß Rußland von seinen beiden Alliirten ver- 
anlaßt wird, der Pforte nicht nur gegenüber den Insurgenten, son- 
dern auch gegenüber den beiden Vasallenstaaten, Serbien und Mon- 
tenegro, freie Hand zu gewähren, wie dieß England seinerfeits zu 
verlangen scheint. Es wird sich dann zeigen, ob die Pforte ihrer 
vollständig Herr zu werden und die Ruhe bis an die Donau und 
bis in die schwarzen Berge wieder herzustellen vermag oder aber 
nicht. Wir unfrerseits erlauben uns, es zu bezweifeln. Es wird sich 
ebenso zeigen, ob die Pforte im Stande ist, lebensfähige durch- 
greisende Reformen aus sich selber hervorzubringen, welche Türken 
und Christen gleichmäßig befriedigen, und wir erlauben uns, auch 
das und zwar noch mehr zu bezweifeln. Wir haben in unseren euro- 
päischen Staaten hinreichende Erfahrung gemacht, wie schwierig der 
Uebergang vom Absolutismus zu freieren volksthümlichen Institu- 
tionen ist und wissen, von welchen langjährigen Convulsionen der- 
selbe begleitet war. Und doch war die Aufgabe in jenen ein Kinder- 
spiel gegen die Schwierigkeiten der Türkei, wenn sie die Gegensätze, 
die sie in ihrem Schooße birgt, versöhnen und sich zu einer irgend- 
wie gearteten Verfassung hindurch zu arbeiten versuchen will, da ihr 
auch nur die allermindesten Ansätze dazu fehlen. Der Idealismus 
eines Midhat Pascha genügt dazu nicht und die Entthronung des 
Sultans Abdul Aziz könnte leicht nicht sowohl der Anfang einer 
neuen Aera für die Türkei, sondern vielmehr der Anfang des Endes 
sein. Es mag ganz am Platze gewesen sein, daß den Planen Ruß- 
lands und den Intriguen Ignatieffs durch England eine energische 
und sehr verständliche Warnung geworden ist. Aber um den innern 
Verfall der Osmanenherrschaft in Europa aufzuhalten, dazu reicht 
selbst die gewaltigste Demonstration Englands nicht hin und ebenso 
wenig vermag sie es wegzuwischen, daß die Forderungen Ruß- 
lands für seine Stammesgenossen in der Türkei an sich berechtigt 
sind. Das Dreikaiserbündniß, wenn es auch vielleicht einen Augen- 
blick in Frage gestellt worden sein sollte, hat sein Gleichgewicht wieder 
gefunden. Es beruht nicht sowohl auf dem allerdings vorüber- 
gehenden persönlichen Einverständniß der drei Kaifer, sondern auf den 
bleibenden Interessen ihrer Staaten. Es dürfte nur klug sein, wenn 
die drei Mächte vorerst und möglichst lange gänzlich zurücktreten
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.