590 Uebersicht der polilischen Entwichelung des Jahres 1875.
und die Pforte, wo augenblicklich der englische Einfluß maßgebend
ist, gewähren lassen. Erst wenn es, wie wir glauben, und wie es
vielleicht früher, als viele meinen, auf der Hand liegen wird, daß
die Pforte unfähig ist, die insurgirten Provinzen zu pacificiren, diese
und die sog. Vasallenstaaten gewaltsam zu unterdrücken und sich
selbst gründlich zu reformiren, ist ihre Zeit wieder gekommen. Dann
aber wird es ihre Aufgabe sein, von sich aus, aber Hand in Hand
mit den übrigen Großmächten gründliche Ordnung zu schaffen und
die orientalische Frage nicht auf einmal, sondern Stück für Stück,
wie es in der Sache selbst und im Interesse Europas liegt, zu lösen,
nicht allerdings nach den Wünschen Rußlands allein oder auch nur
vorwiegend, sondern im Sinne des Friedens und nach den gemein-
samen Interessen des gesammten Europa. Dann aber wird kaum
etwas anderes übrig bleiben, als die Türkei unter die Controle, ge-
wissermaßen unter die Vormundschaft Europas zu stellen. Es wird
sich zeigen, ob die Dreikaiserallianz sest genug zusammenhält und
dazu die nöthige Energie zu entwickeln im Stande ist.
Die Stellung Oesterreichs in der orientalischen Frage ist, das
kann nicht geläugnet werden, eine überaus schwierige. Allein durch
bloßes Geschehenlassen wird diese Schwierigkeit jedenfalls nicht über-
wunden werden. Sie kann es nur durch maßvolles, aber actives
Eingreifen. Oesterreich muß sich fester als je, muß sich fast unbe-
dingt an Deutschland anschließen, um eine Lösung zu erzielen, die
ihm noch am wenigsten nachtheilig sein wird. Deutschland, das an
der orientalischen Frage nicht unmittelbar und weniger als irgend
eine andere der europäischen Großmächte betheiligt ist, fällt dann
die Aufgabe zu, Rußland im Zügel zu halten und Oesterreich zu
schirmen. Es wäre vermessen, ohne Weiteres anzunehmen, daß
Deutschland im Stande sei, diese große Aufgabe im Interesse des
gesammten Europa zu erfüllen, aber seine äußeren und inneren Ver-
hältnisse lassen es wenigstens nicht als unmöglich erscheinen. Kommt
es jedoch gar nicht dazu oder sollte es daran scheitern, so treibt die
orientalische Frage allerdings langsam aber unausweichlich einem
europäischen Kriege zu und die blinden Türkenfreunde in Oesterreich
und anderswo, welche ein verrottetes Staatswesen, das nicht mehr
zu halten ist und vor unseren Augen zusammenbricht, immer noch
stützen wollen, werden daran nicht minder die Schuld tragen als die
offenbaren Plane und die geheimen Umtriebe Rußlands.
Geschrieben Anf. Juni 1876.