Full text: Europäischer Geschichtskalender. Sechzehnter Jahrgang. 1875. (16)

90 Das deutsche Reich und seine einzelnen Glieder. (April 8—10.) 
sich vorzustellen, mit welcher Geschwindigkeit man einst aus dem Anfang des 
Streits mit den Erzbischöfen von Köln und Posen bis zur Conferenz in 
Fulda gekommen ist. Der gerechteste aller Könige Preußens, Friedrich Wil- 
helm III., erschreckt über die plötzliche Aufkündigung des Gehorsams, sah sich 
veranlaßt, zwei Exzbischöfe auf die Festung zu schicken um geringfügiger 
Dinge willen im Vergleiche zu den heutigen Schritten der Bischöfe, wegen 
wirklicher Bagatellen, verglichen mit dem unabsehbaren Maßstabe des Con- 
flikts, den die Bischöfe in Fulda in feierlicher Weise constatirt und prokla- 
mirt haben. Was damals vom König als ein Attentat gegen die Würde 
seiner Krone angesehen wurde, wird heute auf offenem Markte gepredigt. 
Heute führt jeder Dorfpastor eine Sprache gegen den König mit der deutschen 
Krone auf dem Kaiserkaupt und seine Gesetze, wie sie vor einem Menschen- 
alter kein Papst oder Nuntius gegen einen deutschen Kleinfürsten zu führen 
wagte. Unter solchen Umständen darf man nicht Plaidoyers führen, die 
lediglich darauf hinauslaufen der Kirche sei ihr Besitzstand garantirt. Diese 
Garantien sind, als sie gegeben wurden, als absoluter Schutz gegen Verwal- 
lungswillkür, nicht aber als Schranke für die Gesetzgebung über Strafrecht 
und die Sicherheitsgesetzgebung des Staates verstanden worden. Soust wäre 
der Staat im Kampfe gegen die Kirche wehrlos. Wenn Sie mir nun sagen, 
dieß sei ein Widerspruch gegen den Wortlaut der Verfassung, so habe ich 
nur der Kürze wegen zu sagen: daß dieß in dem Kriegszustand erlaubte und 
für den Staat nothwendige Maßregeln sind, da er andere nicht hat. Sie 
sind ein Akt des Strafrechts dem materiellen Inhalte nach, und der Staat, 
der überhaupt an Person und Vermögen Strafen hat, hat auch das Recht, 
in seiner Sicherheitsgesetzgebung Präventivmaßregeln zur Schwächung eines 
voraussichtlichen Gegners in einem offenen Streite zu verfügen. Wenn ich 
das Bild von dem Kriegszustand gebrauche, so usurpire ich nichts Unerlaubtes. 
Aus der kleinen Toga des Herrn, der mir gegenüber sitzt (Windthorst), ist 
wiederholt dieser Kriegszustand  angeboten worden. Und wenn man einen 
Staat durch Attaken dieser Art, durch eine Methode des Angriffs, durch die 
man jeden Punkt einer legitimen Staalsgewalt angreifen kann, in den Kriegs- 
und Belagerungsstand versetzt, dann kann man nicht nachher rückständige 
Schuldklagen eintreiben. Sie zwingen den Staat zu solchem Waffengebrauch, 
denn der Staat kann mit Gewissen und Geistern nicht kämpfen. Daß dabei 
auch Unschuldige getroffen werden, ist unvermeidlich. Hier ist aber dieß selbst 
nicht einmal der Fall, sondern das Gesetz verpflichtet sich gegen die einfache 
Erklärung des  Gehorsams zur unumschränkten Fortzahlung des bisher  Ge- 
gebenen. Und wenn einer der H.H. Redner diesen Anspruch des Staates auf 
eine solche Erklärung eine Prämie für die Untreue eines Geistlichen gegen 
seinen obersten Souverän nennt, dann ist das der Ultramontanismus in  der 
obersten Potenz, der doch noch nicht selbst weiß, daß er ultramontan ist. 
(Beifall links; Zischen im Centrum.) Vor Schluß der Generaldebatte erklärt 
Virchow, daß und warum auch die Fortschrittspartei dem Gesetz zustimme. 
8. April. ((Deutsches Reich.) Auch die für halb officiös 
geltende Berliner „Post“ veröffentlicht einen Artikel: „Ist der Krieg 
in Sicht?“, der wesentlich mit dem Artikel der Köln. Ztg. vom 5. 
d. M. übereinstimmt. Die allgemeine Unruhe über die scheinbare 
Gefahr für die Fortdauer des Friedens erhält dadurch neue Nahrung. 
8.—10. April. (Preußen.) Abg.-Haus: Zweite Lesung der 
Vorlage bez. Provincialordnung für die sechs östlichen Provinzen. 
Dieselbe wird wesentlich nach den Anträgen der Commission erledigt.
	        
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