Full text: Europäischer Geschichtskalender. Achtzehnter Jahrgang. 1877. (18)

Das beulsche Reich und seire rinzelner Glirder. (Mai 17—20.) 113 
17. Mai. (Deutsches Reich.) Eine Ansprache des Papstes 
an deutsche Pilger, in welcher er den deutschen Kaiser (oder den 
Reichskanzler) mit Attila vergleicht und eine neue Geißel Gottes 
neunt, erregt in Deutschland starken Unwillen. 
Der Unwille spricht sich selbst in den sonst maßvollsten Blättern ener- 
gisch us. von denen beispielsweise eines sich darüber folgendermaßen ausläßt: 
Daß das so dankbare Thema von der großen Verfolgung gegen die Katho- 
lülen, insbesondere gegen die unbotmäßigen Bischöfe, nicht vergessen wurde, 
war vorauszusehen. Sie erhalten zur Belohnung hochtönende Phrasen und 
werden sich ohne Zweifel dadurch hoch geehrt und belohnt fühlen. Ist es 
ja überhaupt merkwürdig, durch welche Mittel die römische Curie Verdienste 
um den Glauben ehrt und belohnt, und wodurch sie die Religion, die doch 
das lautere, unprofanirte Heiligthum der Seele sein soll, fördern zu können 
meint. Da erhält Einer den Tittel „geheimer Kammerdiener des Papstes“, 
und ist natürlich hoch beglückt darüber; ein Anderer wird als „pöpstlicher 
Stuhlassistent“ ausgezeichnet, und steht dadurch noch höher als jener; der 
Eine erhält das unschätzbare Vorrecht, violette Strümpfe zu tragen, während 
der Andere in rathen, Strümpfen paradiren darf. Alles wegen Förderung 
der „Religion Jesu Christi“, die im deutschen Reiche so grausom verfolgt 
wird. Und selbst sonst Ernsthefte Männer streben nach dergleichen oder weisen 
es wenigsteus nicht zurück. Bei solcher Gesinnung hat freilich das Papstthum 
leichtes Spiel und kommt in gar wohlfeiler Weise zu all den Vortheilen, die 
es anstrebt. Und das „Christenthum Christi“, das als religiöse Reform ge- 
sordert wird, kann bei Leuten dieser Art wenig Theilnahme finden, denn es 
hat nichts mit violetten und rothen Strümpfen zu thun, nichts mit geheimen 
Kammerdienern und Thronassistenten, nichts mit Orden, Titeln und Bändchen! 
Wenn übrigens der Papst kaum Worte genug findet, um die graufame „Ver- 
folgung“ zu schildern. die jetzt in Deutschland wüthen soll gegen seine An- 
hänger, so ist das wahl nicht gar zu ernst gemeint. Deun er und seine 
Diener wissen sehr wohl, wie schwach es eigentlich darum bestellt ist, und 
betrachten sicherlich döse, ganze sogenannte Verfolgungswerk des modernen 
Staats mit Aeinen humanen Grundsähen nur als eine klägliche Stümperei 
in diesem Fache. Wäre die römische Curie mit den Jesuiten im Besitze der 
Macht ihren Gegnern gegenüber, dann würde man erfahren, was Verfolgung 
ist, was es heißen will, Kerkerhaft auszuhalten u. s. w. Selbst unter Lud- 
wig XIV. in Frankreich konnte sie ihre Birtuosilöt darin noch zeigen, und 
Kerkerstrafe wurde noch in diesem Jahrhundert in Rom unter der Papstherr- 
schaft über diejenigen verhängt, welche das kirchliche Fastengebot übertraten.“ 
I7. Mai. (Württemberg.) II. Kammer: bei der Berathung 
des Budgets entspinnt sich eine längere Debatte über die Frage der 
Beibehaltung der Gesandtschaften in München, Wien und St. Peiers- 
burg. Schließlich wird die Exigenz für den Posten in München mit 
69 gegen 11, der Posten in St. Petersburg mit 74 gegen 8, der in 
Wien mit 59 gegen 23 Stimmen genehmigt. 
20. Mai. (Deutsches Reich.) Der halbe Staatsstreich des 
Präsidenten der franz. Republik, des Marschalls Mac Mahon, vom 
16. Mai erregt in Deutschland großes Aufsehen und vielfach ge- 
radezu Besorgnisse, da er offenbar vorwiegend im Interesse des Ultra- 
Schulthess, Europ. GSeschichtslalender. XVII.. Sd. 8
	        
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