Full text: Europäischer Geschichtskalender. Achtzehnter Jahrgang. 1877. (18)

116 N benische Reich und seine einzelnen Elieder. (Mai 27.) 
(179,699 mehr als bei den vorhergehenden Wahlen) auf die sociol- 
demokratischen Candidaten gesallen sind. Die Zahl der Parteiorgane 
beträgt außer dem „Vorwärts“ (mit 12,000 Abonnenten) 56, dar- 
unter ein illustrirtes belletristisches Blatt, „Die Neue Welt“; diese 
Organe werden von 44 Redacteuren redigirt, unter denen 12 aka- 
demisch gebildete Literaten sich befinden. Die Ergebnisse des Con- 
gresses sind nicht gerade bedeutend: 
Die Thätigkeit desselben richtet sich auf innere Parteiangelegenheiten, 
speziell auf eine mit den Vereinsgesetzen verträgliche Organisation. Der Ver- 
such scheitert aber; auf den Antrag von Tölcke wird beschlossen, „in Rücksicht 
auf das Vorgehen der preußischen Behörden und das günstige Resultat der 
leßten Reichstagewahlen von einer formellen Organisation Abstand zu nehmen 
und die Parteileitung dem Centralcomité in Hamburg zu übertragen"“. Man 
verzichtet also auf ein straffes Einheitsband, offenbar weniger wegen der 
bemmenden Vereinsgesetze, als wegen der internen Parteispaltungen, nament- 
ich in Bezug auf die Füafsane Diese Spaltungen kommen sehr charakte- 
ristisch zum Ausdruck. Der zwischen Hasselmann und seinen Anhängern und 
Liebknecht und seinem Anhang ausgefochtene Zwist beruht auf zwei Gegen- 
sätzen. Liebknecht, der lange in London gelebt hat, gehört zur Schule von 
Marx und Engels und will dem „Vorwärts“ trotz der derben Sprache des- 
selben die „wissenschaftliche“ Darlegung des Sorialismus zur Hauptaufgabe 
stellen, wobei sich die eigentlichen Arbeiter aber langweilen; Hasselmann ist 
troz seiner akademischen Bildung eine mehr auf massive Wirkung angelegte 
Demagogengestalt. Der andere Gegensatz besteht in der Stellung zur natio- 
nalen Frage. Die Hasenclever und Hasselmann waren ursprünglich deutsch- 
national gesinnt, wie Lassalle eben auch; sie führen jetzt freilich über vater- 
ländische Angelegenheiten eine cynische Sprache, aber großdeutsch waren sie 
nie. Das letztere ist dagegen Liebknecht von jeher gewesen und ist es noch; 
sein Haß gegen die neue Gestaltung der deutschen Dinge übersteigt selbst seine 
eigenklichen socialistischen Tendenzen und hat zeitweise dem „Vorwärts“ wie 
seinem Vorgänger, dem „Volksstaat“, in gewissen kriegsgeschichtlichen Artikeln 
eine der socialistischen Propaganda dem im deutschen Waffenrock gewesenen 
Arbeiter gegenüber gewiß nicht günstige Färbung gegeben. Endlich ist Lieb- 
knecht ein Gegner jedes „Personencultus“ und auch des mit Lassalle getrie- 
benen; er ist namentlich in jenem Robespierre'schen Sinne Demokrat, daß er 
gegen jede ihn an Popularität übertreffende Persönlichleit eine tiefe Abneigung 
empfindet. Wie es in der Natur der Sache liegt, ist die parlamentarische 
Thätigkeit der socialistischen Reichstagsabgeordneten einer der Hauptberathungs- 
gegenstände und der Krystallisationspunkt einer ganzen Reihe von Beschwer- 
den, Anträgen und Controversen. Einig ist die Versammlung nur darüber, 
daß ihre Vertreter im Reichstage nicht oft genug zum Worte gekommen, daß 
sie, um ein geflügeltes Wort Most's zu gebrauchen, „valentinirt“ und von 
einer erdrückenden Bourgeois-Mehrheit in Thaten nicht bloß, sondern sogar 
in Worten lahm gelegt worden seien. Worin die vom Abg. Fritzsche für die 
nächste Session angekündigten Repressalien gegen diese „Valentinisirung“ be- 
stehen sollen, ist nicht wohl ersichtlich; denn daß die von den sociolistischen 
Reichsboten beantragte, in der jüngsten Session aber nicht mehr zur Ver- 
handlung gelangte Abänderung — Geschäftsordnung, nach der mehrere Be- 
stimmungen über die Beschrankung der parlamentarischen Redefreiheit in 
Wegfall kommen sollen, die Zustimmung der Mehrheit des Reichstags in 
einer jetzigen Zusammensehung finden werde, wird doch selbst der vertrauens- 
  
 
	        
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