Full text: Europäischer Geschichtskalender. Achtzehnter Jahrgang. 1877. (18)

120 Das be#ische Reich und seine rinzelnen Gliedrr. (Juni 7.) 
u. A. gelehrt haben. Davor sich zu bekreugigen, das sei für einen Theologen 
ein unverzeihliches testimonium paupertatis. Hätten sie Dogmen studirt und 
sich die Geschichte der theologischen Meinungen angesehen, so hätten sie ge- 
lernt, daß über die Göttlichkeit Christi stets und immerdar verschiedene An- 
sichten geherrscht haben. Solche theologisch ganz ungebildete Phrasen von der 
„Leugnung der Gottheit Christi“ könne man wo einem Laien, nicht aber 
einem Theologen verzeihen. Damit spreche man einem großen Theil der theo- 
logischen Welt und dem größten Theil der gebildeten Laien das Christenthum 
ab. Ob das im Zuteresse- des Christenthums liege, sei billig zu bezweifeln. 
Jedenfalls wäre es für die orthodoxen Kirchgänger Pflicht der ceisllichen 
Bruderliebe, wenn nicht des allgemeinen menschlichen Anstandes, gewesen, 
ehrlichen Bekennermuth, die ehrenhafte Ueberzeugungstreue zu achten. Es sei 
ein großer Irrthum der Orthodoxen, daß sie sich noch immer als die „Herren 
der Kirche“, die Anderen aber als nur geduldige Parias betrachten. So 
stehe es boch schon längst nicht mehr, auch die liberale Strömung verlange 
Gleichberechtigung, und deßhalb wäre es der Kirche viel dienlicher, wenn ihre 
Glieder zusammenstehen in der „Einheit des Geistes“. Frahizer Rohde: Er 
habe sich lange gescheut, diesen Funken in das Pulverfa zu schleudern, aber 
er befinde sich nicht in der Offensive, sondern in der Defensive. Wenn man 
sehe, in welcher empörenden Weise die liberale Richtung behandelt wird: wie 
die Herren von der Pastoral-Conserenz bei der Kunde von der Wahl 
bach's Lieder anstimmen, als wollten sie sagen: traf Hoßbach ist der aorn 
doch noch bei uns, so dürfe man sich dies nicht gefallen lassen. Man erkläre 
es für ganz unerhört, daß Hoßbach gesagt habe: im alten und neuen Testament 
befinden sich auch Sagen. Er frage: ist denn irgend ein Geistlicher, der Augen 
hat, zu sehen, und Ohren, zu hören, der Das zu leugnen wagt? Thun Sie (die 
Orthodoxen) nur nicht so, als wären Sie so einig, das ist einfach nicht wahr. 
Wenn die Orthodoxen Schleiermacher und die größten Theologen unserer Zeit 
verleugnen, so mögen sie das mit sich abmachen. Wir verbitten es uns ganz 
entschieden, von Seiten der Orthodoxie des Unglaubens bezichtigt zu werden. 
Hierauf wird der Antrag Rohde's mit großer Mojorität angenommen. 
Die Kreissynode beschließt außerdem, die Abschaffung des ob- 
ligatorischen Gebrauchs des apostolischen Glaubensbekenntnisses we- 
nigstens anzuregen, „da dasselbe nur dazu beitrage, die Gemüther 
von Tausenden der evangelischen Kirche zu entfremden, indem es in 
seiner allen Fassung doch nicht mehr geglaubt werde“. 
7. Juni. (Deutsches Reich.) Bundesrath: Preußen bean- 
tragt bei demfelben die Uebertragung der gesammten Stempelsteuern 
von den Einzelstaaten auf das Reich, um dadurch die Matricular- 
beiträge zu beseitigen resp. zu ermäßigen, und die Erörterung der 
allerdings schwierigen Frage zunächst einer Commission von Sach- 
verständigen zu überweisen. 
Ferner beantragt Preußen, das Gesetz über den Unterstützungs- 
wohnsitz im Sinne des Programms der sog. Agrarier dahin abzu- 
ändern, daß das Recht auf Unterstützung von Seite des Wohrnsitzes 
nicht erst mit dem Ablauf des 26., sondern schon mit Ablauf des 
22. Lebensjahres und schon nach einjährigem Aufenthalte in einer 
Gemeinde erworben werden solle.
	        
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