Full text: Europäischer Geschichtskalender. Achtzehnter Jahrgang. 1877. (18)

382 Rißland. (März 26.) 
Ueber die Londoner Protokollfrage wird inzwischen weiter unterhan- 
delt (s. England). 
26. März. (Östseeprovinzen.) Ein Ukas des Kaisers be- 
seitigt die Jahrhunderte alte Rechtsordnung der Städte Liv-, Csth- 
und Kurlands und ordmtt die fast bedingungslose Einführung einer 
Städteordnung an, welche am 16. Juni 1870 für eine Anzahl rus- 
sischer, bessarabischer, sibirischer u. s. w. Städte in der Absicht er- 
lassen worden, hier die bis jetzt vollständig fehlenden Grundlagen 
bürgerlich-städtischen Lebens und communaler Selbständigkeit zu 
schaffen. Die Russificirung der deutschen Osiseeprovinzen ist damit 
um ein großes Stück weiter geführt. 
Jede der drei Provinzen Liv-, Est= und Kurland besaß bis jett ihre 
eigene, nach dem Muster der Provinzialstädte Riga, Reval und Mitau ge- 
regelte, aus die Capitulationen von 1710 gegründete, zuletzt durch die Pro- 
vinzialgesehgebmg von 1845 zu gesetzlichem Ausdruck gebrachte Verfassung. 
Im Mittelalter entsprungen und auf Verhältnisse berechnet, die sich längst 
unkenntlich verändert hatten, waren diese Verfassungen vielfach unbequem 
und beengend geworden. Weder ließ die auf dieselben gegründeten Verschmelz- 
ung von Justiz und Verwaltung sich dauernd behaupten, noch entsprach die 
alte Gliederung in die drei „städtischen Stände“ des „Raths, der großen und 
der kleinen Gilde“ dem Bedürfniß der Zeit. In einer Rücksicht waren und 
blieben diese alten Ordnungen aber von unschätzbarem Werth: sie sicherten 
dem Bürgerthum eine selbständige, von den wechselnden Launen der Bureau-- 
kratie unabhängige Bewegung und wirkliche Selbstregierung, und sie waren 
mit den idealen Gütern des baltischen Lebens, dem deutsch-protestantischen 
Kirchen= und Schulwesen, der selbständigen Rechtsprechung nach deutschem 
Recht und mit dem Gebrauch der Sprache der Väter in das engste Verhält- 
niß gesetzt. Die charakteristischen Eigenschaften der dafür octroyirten russi- 
schen Städteordnung von 1870 lassen sich in zwei Sätze zusammenfassen: 
nach außen absolute Abhängigkeit der communalen Organe vom Beamten- 
thum, nach innen Verlegung alles entscheidenden Gewichts in die unorgani- 
Hürte und größtentheils ungebildete Masse der städtischen Bevölkerung, bei 
i Mangel jedes stabilen Elements. Alle vier Jahre treten alle Stadt- 
bewohner, die irgendeine städtische Abgabe zahlen oder ein städtisches Immobil 
besitzen, an die Wählerurnen, um (nach drei Steuergruppen geordnet) in ge- 
heimer Abstimmung (durch Ballottement mit Kugeln) die Stadtverordneten 
u wählen, deren Zahl, je nach der Größe der Stadt, zwischen 30 und 72 
söwantt= Die Stadtverordnetenversammlung erwählt das sogenannte Stadt- 
amt (nach deutscher Terminologie den Magistrat) auf bloß vier Jahre, und 
bestimmt mit souveräner Willkür die Anzahl, die Functionen und die Ge- 
7 der Magistratsglieder, sowie die Person des Stadthaupts. Alle zwei 
-ahre tritt die Hälfte der Magistratsglieder aus; alle Beamten der städti- 
schen Verwaltung werden lediglich miethweise angestellt, mit alleiniger Aus- 
nahme des Stadtsecretärs (Secretärs der Stadtverordnetenversammlung), der 
die Rechte eines Staatsbeamten hat und in seiner Person die Continuität 
der Verwaltung repräsentiren soll. Das auf vier Jahre erwählte, nach dem 
Gutdünken der Stadtverordneten bezahlte Stadthaupt präsidirt zugleich dem 
Magistrat (Stadtamt) und der Stadtverordnetenversammlung, welche es nur 
in Angelegenheilen verläßt, die seine Person und die Prusang seiner Ver- 
waltung betreffen, bedarf der Bestätigung des Ministers des Innern und ist 
 
	        
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