Full text: Europäischer Geschichtskalender. Achtzehnter Jahrgang. 1877. (18)

Kebersicht der polilischen Eulwichelnaz des Jahres 1877. 449 
sich mit Serbien. Die kriegerische Tüchtigkeit der Serben war längstserbilch 
anerkannt, sie konnten etwa 100,000 Mann eingeübter Milizen auf die türk. 
Beine bringen und hatten dazu auch schon längst einleitende Maß- Aries 
regeln getroffen. Bisher waren die Serben und Montenegriner in ihrem 
kriegerischen Eifer von Rußland eher zurückgehalten worden, jeht hatte 
es dazu keinen Beweggrund mehr. Ende Juni 1876 erließ Serbien 
an die Pforte ein ziemlich unmotivirtes Ultimatum und am 1. Juli 
Üüberschritten Serben und Montenegriner ihre Grenzen. Direkte Hülfe 
konnte ihnen Rußland nicht leisten. Doch lieh es ihnen gewisser- 
maßen sein Prestige: in Belgrad fand sich alsbald ein höherer rus- 
sischer Offizier, Namens Tschernajeff, ein, den die Serben an die 
Spitze ihrer Armee stellten und gleich darauf strömten auch zahlreiche 
russische Freiwillige zu, aus denen es eigene Legionen bildete. Ein 
förmliches russisches Hülfscorps waren diese Russen allerdings nicht; 
aber, wenn man die russischen Regierungsgrundsätze und die russische 
Polizei in Erwägung zieht, so ist es klar, daß auch nicht Ein Frei- 
williger nach Serbien gekommen wäre, wenn es die russische Regierung 
nicht gewollt hätte. Der serbische Angriff kam den Türken nicht 
unerwartet: sie hatten bereits auf verschiedenen Punkten für diese 
Eventualität Truppen gesammelt und verstärkten sie nunmehr. Abdul 
Kerim Pascha wurde zum Oberbefehlshaber ernannt; ihre gesammte 
Streitmacht soll sich auf 112,000 Mann beziffert haben. Den größe- 
ren Theil derfelben behielt er in seiner Hand, während die Serben 
ihre Kräfte zersplitterten. Ihr anfänglicher Vorstoß kam denn auch 
schnell zum Stillstand, bald mußten sie zurück gehen; Abdul Kerim 
rückte ihnen nach bis zur Grenze und über die Grenze. Die Serben 
wurden von den Türken wiederholt geschlagen, obgleich nicht zu 
leugnen ist, daß sie sich tapfer wehrten und zwar gegen einen ihnen 
an Zahl weit überlegenen Feind. Gegen das ganze türkische Reich 
kann das kleine Serbien unmöglich Stand halten; es war eine 
Thorheit, daß Serbien der Türkei, ohne von diefer dazu gezwungen 
worden zu sein, den Krieg erklärt hatte, seine Niederlage war viel- 
leicht eine verdiente, aber durchaus keine unrühmliche. Indeß die 
orientalische Frage war dadurch wieder in Fluß gekommen und 
mehr als vorher. Die Mächte legten sich ins Mittel, um zwischen oin- 
Serbien und der Pforte einen billigen Frieden zu Stande zu bringen, - 
und zwar ging diesmal England allen anderen voran, und es war mne 
auch England, das, über die speciell serbisch-türkische Frage heraus- 
greifend, gleichzeitig die Reformfrage überhaupt auch für, die Her- 
Schulthess. Gurop. Geschichtskalender. XVIII. Bo.
	        
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